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Nummer 2 / April 1999


Abdullah Öcalan und die "kurdische Frage"

Das Haupt der Medusa

von Norman Paech

Am Ende des vergangenen Jahres, kurze Zeit nachdem die römische Justiz den Haftbefehl gegen den Führer der PKK, Abdullah Öcalan, aufgehoben hatte, veröffentlichte die FAZ einen Artikel des kurdischen Autors Namo Aziz unter der Überschrift: "Der vergessene Krieg in Kurdistan. Öcalan ist die Antwort auf die türkische Kurdenpolitik." (FAZ v. 29.12.98) In ihr gab der Autor eine luzide Analyse der historischen Entwicklung und der tatsächlichen Hintergründe des Konfliktes der ca. 10-15 Mio. Kurden mit ihrer türkischen Regierung und dem Militär. Sein Fazit: Die barbarische Politik der Regierungen in Ankara hat sich die PKK geradezu herangezogen, sie schuf eine Spirale der Gewalt, in der sie sich bis heute selbst gefangen hält.

Nun, da Öcalan dort gelandet ist, wo keine Regierung in Europa vorgab, ihn haben zu wollen, aber alle Regierungen insgeheim froh sind, ihn dort und nicht im eigenen Lande zu haben, ist von den Wahrheiten des Namo Aziz keine Rede mehr. Die verzweifelten Reaktionen der Kurden in praktisch ganz Europa dominieren die Berichterstattung und füllen die Blätter mit Klagen über Terror, Gewalt, Ausschreitungen und unverantwortliche Störung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Selbst die drei von israelischen Sicherheitskräften im israelischen Konsulat erschossenen Kurden werden ihnen zur eigenen Last gelegt. Die einhellige Meinung, daß sich die Kurden mit diesen Aktionen nur selber und ihrer eigenen Sache schaden, erfaßt aber doch wohl nur die Hälfte der Wahrheit. Denn die Gesetze dieser Medien arbeiten so, daß geordnete Demonstrationen, Versammlungen, Aufrufe und Dokumentationen nur selten den geforderten news value für eine Veröffentlichung bringen. Und nach den letzten Autobahnblockaden und Selbstverbrennungen im März 1995 mit ihrer außergewöhnlichen Medienresonanz war die Kurdische Frage wieder im täglichen Ablauf der Ausländerpolitik und der Nahost-Querelen verschwunden. Doch Öcalan war immer eine Meldung wert, weswegen er jetzt von der Türkischen Regierung liquidiert wird - politisch auf jeden Fall, und die Befürchtungen seiner physischen Liquidierung sind nicht aus der Luft gegriffen.

Aber was macht Medusa ohne ihr Haupt? Die Bedeutung Öcalans für die kurdische Bewegung ergibt sich nur aus ihrer eigenen Geschichte, die lange vor ihm und seiner PKK begann.

Kurdische Tragödie

Nehmen wir die Konferenz von Lausanne im Jahre 1923, auf der die Alliierten den größten Teil des kurdischen Territoriums der neu gegründeten Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk zuschlugen und damit die Souveränitätsrechte der Kurden annullierten, die ihnen drei Jahre zuvor noch im Vertrag von Sevres in Aussicht gestellt wurden - nehmen wir also das Jahr 1923 zum Ausgangspunkt der kurdischen Tragödie, so haben wir dort zweifelsohne nicht den Ursprung, aber doch den entscheidenden Schnittpunkt der Misere. Konnten sich die Kurden über Jahrhunderte zwischen den großen Mächten des Ostens und des Westens, zwischen Römern und Sassaniden, zwischen Osmanischem Reich und den Safaviden, in wechselnden Loyalitäten eine gewisse Selbständigkeit bewahren, so war das mit dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Gründung der Türkei vorbei. Im Vertrag von Lausanne waren Minderheiten zwar noch bestimmte Rechte zuerkannt worden. Aber Mustafa Kemal erkannte die Kurden nicht als Minderheit an, da sie auch Muslime waren. Er unterwarf sie einem gnadenlosen Assimilierungsregime und tabuisierte ihre politische, kulturelle und geographische Identität.

Der kurdische Widerstand, der sich gegen diese brutale Türkisierung regte, wurde blutig niedergeschlagen. Ob 1925, als über 50 Anhänger des Scheichs Said hingerichtet wurden und kurz darauf der Aufstand von Ararat im Van-See ertränkt wurde, oder 1937, als im Aufstand von Dersim (heute: Tunceli) 80.000 kurdische Kämpfer zum ersten Mal einen kurdischen Staat forderten und mit dem Einsatz von Giftgas zum Schweigen gebracht wurden. Über 50.000 Kurdinnen und Kurden kamen damals ums Leben. Die Türkische Regierung ging mit einem auf die führenden kurdischen Familien zielenden Umsiedlungsprogramm gegen die sich zu einem Nationalbewußtsein formende kurdische Identität vor, sie verbot die Sprache und die Nationaltracht. Offensichtlich war die Demütigung, die das türkische Nationalbewußtsein im Osmanischen Reich immer wieder erfahren hatte, die Basis für den Chauvinismus der Türkisierung: ªDie beiden Völker können und dürfen nicht gleichberechtigt zusammenleben. Deswegen müssen die Kurden assimiliert und Kurdisch muß verboten werden. Die Kurden müssen in den Westen zwangsdeportiert und die Türken im Osten an ihrer Stelle angesiedelt werden. Der Osten muß durch einen mit weiten Vollmachten ausgestatteten Generalgouverneur, wie in den Kolonien, regiert werden. Alle in wichtigen Positionen stehenden Beamte müssen Türken sein und aus dem Westen stammen´ heißt es in dem Gesetz zur Kurdenpolitik vom 24. September 1925.ª

Gründung der PKK

Bis weit in die 70er Jahre dauerte es, ehe sich kurdische Intellektuelle wieder mit Forderungen nach politischer und kultureller Freiheit an die Öffentlichkeit wagten - ermuntert durch das Wiedererstarken der irakischen Kurden und herausgefordert durch das Gesetz zur Kulturpflege von Ministerpräsident Demirel von 1967, mit dem nicht nur kurdische Sprache und Wort, sondern auch kurdische Musik aus allen Veröffentlichungen verbannt wurden. Inzwischen hatte erneut eine Militärjunta geputscht (1971), und die türkischen NATO-Generäle sorgten zunächst für eine wahre Grabesstille im Land. Allerdings konnten sie nicht kontrollieren, was sich im Untergrund vielfältig an Opposition und Widerstand entwickelte. So auch 1978 die Partiya Karkeren Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans, PKK) des jungen Abdullah Öcalan. Sie war notwendig antikemalistisch, was ihr ebenso wie die Bezeichnung ªKurdistansmus, den die meisten afrikanischen Befreiungsbewegungen und auch die PLO auszeichneten.

15 Jahre Krieg

Als die Militärs 1980 zum dritten Mal putschten, verschärfte sich die Unterdrückung. Alle Vereine, Parteien, Gewerkschaften und Verbände wurden verboten, das Parlament aufgelöst. Mehr als 650.000 Menschen wurden festgenommen, von September bis Dezember 1980 flohen etwa 60.000 in die BRD. Jede legale, geschweige denn kurdische Opposition wurde im Keim erstickt. Und so startete die PKK am 15. August 1984 mit dem Überfall auf zwei Kasernen des türkischen Militärs den bewaffneten Kampf. Es war vorauszusehen, daß diese Aktionen das türkische Militär und ihren Griff auf die Regierung nicht schwächen konnten. Aber die technische Überlegenheit des Militärs war den Methoden des Guerillakampfes deswegen nicht gewachsen, weil hinter diesem Kampf der PKK, ihren Zielen und ihrem Führer Öcalan die große Mehrheit des kurdischen Volkes stand. Die militärische Konfrontation über 15 Jahre verwandelte den Südosten der Türkei in ein blutiges Schlachtfeld mit über 30.000 Toten. Ein Ausschuß des türkischen Parlaments stellte 1997 fest, daß 3.428 Dörfer total zerstört, ihre Einwohner vertrieben, 2.200 Schulen und 800 Krankenhäuser geschlossen worden waren. Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen liegt bei über 3 Millionen. Wer nicht den Weg ins Ausland finden konnte, siedelt in den Slums um Diyarbakir, Istanbul und Izmir.

Demokratie in der Türkei?

Doch der Kampf der PKK war nicht isoliert von der kurdischen Bewegung, die sich auch außerhalb des kurdischen Siedlungsgebietes in der Türkei zu organisieren versuchte. Im Juni 1990 gründete sich die Arbeiterpartei des Volkes (HEP), die allerdings schon drei Jahre später verboten wurde. Auch die ihr nachfolgende Demokratiepartei (DEP) wurde bereits nach einem Jahr im Juni 1994 verboten, nachdem man zahlreiche Parteibüros in die Luft gesprengt hatte und führende Funktionäre und Abgeordnete - unter ihnen Leila Zana, die den Friedenspreis des Europäischen Parlaments im Gefängnis erhielt - wegen Separatismus zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt hatte. Die Demokratiepartei des Volkes (FIADEP), die im Mai 1994 entstand, steht unmittelbar vor ihrem Verbot. Weitere kleinere Parteien wurden gegründet, verboten, überlebten in der Illegalität oder fristen ein Schattendasein zwischen Schikane und Verbot. Allein die PKK konnte über die Jahre hinweg nicht nur den bewaffneten Kampf fortführen, sondern ihren politischen Einfluß unter der kurdischen Bevölkerung ausdehnen. Sie wurde zur mit Abstand größten kurdischen Partei, zum Garanten des Kampfes um das kurdische Selbstbestimmungsrecht, ja zum Kristallisationspunkt der kurdischen Identität in der Türkei. Daß dieser Erfolg nicht nur mit der Programmatik einer sozialistischen Arbeiterpartei, die sowohl die ethnische wie soziale Seite des Kampfes betont, den Guerillaeinheiten in den Bergen, sondern auch mit dem von vielen Kurden empfundenen Charisma ihres Führers Öcalan zusammenhängt, ist ohne Zweifel. Ihm ist es gelungen, den Traditionalismus des feudalen Sippen- und Clanwesens der Kurden aufzubrechen, die Stellung der Frau zu modernisieren und die ökonomische Vernachlässigung und Unterentwicklung von Südostanatolien zum zentralen Thema der kurdischen Zukunft zu machen. Übersehen wird zumeist, daß die PKK dreimal der türkischen Regierung einen unbefristeten Waffenstillstand angeboten und für eine gewisse Zeit praktiziert hat: 1993, 1995,1998. Das türkische Militär ist nie auf die Angebote eingegangen, sondern hat sie als Zeichen militärischer Schwäche interpretiert und seine Angriffe verstärkt.

Freiheitskampf oder Verbrechen?

Die charismatische Position des PKK-Führers, dem es gelang, den Kampf um die Identität der Kurden gegen jahrzehntelange Unterdrückung und Verachtung mit dem Kampf gegen die Rückständigkeit in der eigenen Gesellschaft zu verbinden, ist in der deutschen Öffentlichkeit ebensowenig begriffen worden, wie der Charakter der kurdischen Bewegung als Befreiungsbewegung. Selbst für liberale Vertreter der Presse wie Heribert Prantl ist Öcalan nichts anderes als ein ªblutrünstiger Schwerverbrecherorganisierte Kriminalitätster des Terrors gezogen hat als derzeit die Kurden. Die Unfähigkeit deutscher Regierungen, ihrem notorischen Menschenrechtsbekenntnis konkreten politischen Nachdruck auch gegenüber befreundeten Regierungen zu verleihen, flüchtet sich nur allzu gern in den Populismus des Rufs nach schärferen Straf- und Ausländergesetzen. Wer aber über die Wurzeln des Kurdistankonfliktes und die eigene Verantwortung dafür nicht bereit ist zu reden, sollte sich über die Auswirkungen im eigenen Land nicht wundern.

Der neue griechische Außenminister Papandreou hat den europäischen Regierungen zu Recht politisches Versagen vorgeworfen, als sie in dem Moment, als Öcalan Rom verlassen hatte, alle Initiativen für eine politische Lösung der Kurdenfrage wieder fallen ließen. Dabei gab es überhaupt keine ernsthafte Initiativen, höchstens eine vage Ankündigung. Sowohl die Vorschläge eines Kurdistantribunals, welches entsprechend den Tribunalen zu Jugoslawien und Ruanda die Kriegsverbrechen aller Beteiligter zu untersuchen hätte, als auch einer internationalen Kurdistankonferenz nach dem Vorbild Rambouillet, Dayton, Wye Plantation oder Madrid, in der unter Beteiligung der Großmächte ein politischer Rahmen für das zukünftige Zusammenleben der verfeindeten Parteien verhandelt werden könnte, wurden unter dem Druck der Türkei und der USA nicht ernstlich verfolgt. Das einzige Interesse der Regierungen lag darin, durch die Anwesenheit des PKK-Führers nicht mit ihrer eigenen Verantwortung für Menschenrechte und Demokratie in einem NATO-Mitgliedstaat konfrontiert zu werden. So ließen sie ihn in einer menschenunwürdigen Odyssee förmlich in den Luft hängen - mit dem zwangsläufigen Ergebnis seiner Verschleppung in die Türkei.

Prozeß ohne Recht

Der Prozeß, den Öcalan erwartet, spottet jedem rechtsstaatlichen Mindeststandard. Bis zu sieben Tage kann er nach dem türkischen Strafrecht ohne Kontakt zu Rechtsanwälten oder Angehörigen in völliger Isolation vernommen werden. In dieser Zeit geschehen zumeist die berüchtigten Folterungen, um Geständnisse zu erpressen. Das Staatssicherheitsgericht, vor das er gestellt werden soll, widerspricht nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom Juni 1998 der Europäischen Charta für Menschenrechte, da die Unabhängigkeit der Militärrichter nicht gesichert ist. Und schließlich entbehrt ein Prozeß gegen einen Angeklagten, der in völkerrechtswidriger Weise verschleppt worden ist, der rechtsstaatlichen Legitimation. Das war schon bei der Entführung von Eichmann aus Argentinien nach Israel problematisch, bei der Entführung des israelischen Atomwissenschaftlers Mordechai Vanunu aus Italien nach Israel aber ein schwerer Mangel des anschließenden Prozesses, in dem er zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Alle Beteuerungen der europäischen Regierungen, für einen fairen Prozeß in der Türkei einzutreten, sind nur dann bare Münze, wenn es ihnen gelingt, Öcalan vor ein internationales Tribunal zu stellen, welches von dem UN-Sicherheitsrat eingerichtet werden könnte.

Aber selbst das entbindet sie nicht von ihrer Verantwortung für eine menschenwürdige Existenz der Kurden bei ihrem NATO-Partner Türkei. Die verständlichen Interessen der NATO an einer stabilen Türkei und die Interessen der USA an einem strategischen Vorposten im Norden der Golf-Region können einer Befriedung Nord-Kurdistans nicht entgegenstehen. Es bedurfte keiner langen Diskussion, Süd-Kurdistan aus der Souveränität des Iraks durch Beschluß des UN- Sicherheitsrats herauszulösen und in eine halbautonome Sicherheitszone umzuwandeln. Erst wenn Kurdistan befriedet und den Kurden in der Türkei wie im Exil eine Lebensperspektive gegeben wird, erst dann wird es auch Frieden unter den Kurden und mit den Kurden in Europa geben.

Norman Paech ist Professor für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Der Artikel erschien im Erstabdruck in der Zeitschrift Sozialismus 3-99. (Zwischentitel von d. An-Redaktion).


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