VVN-Logo 25.10.1998
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschisten

VVN-BdA Baden-Württemberg
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antifNACHRICHTEN an9807
Nummer 3 / Juli 1998


Referat, gehalten auf der Landesdelegiertenkonferenz der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten, Baden-Württemberg e.V. am 21. 3. in Ulm. (Zwischentitel teilweise von der Redaktion) Beilage zu den Antifa Nachrichten Nr. 3/1998. Herausgegeben von der VVN - BdA Ba-Wü, Böblinger Str. 195, 70199 Stuttgart. (ViSdP: D. Lachenmayer)

Grundrechte-Zerfall und Demokratie-Abbau:

Bürgerrechte in Wahlkämpfen

von Dr. Rolf Gössner

Dieses Jahr ist Wahlkampf-Jahr - begonnen hat es mit der Niedersachsen-Wahl, weitere Bundesländer folgen, Höhepunkt wird die Bundestagswahl im September sein. Vorwahlkämpfe und Wahlkampfjahre sind in aller Regel besonders schlechte Zeiten für Bürgerrechte und Demokratie. Davon handelt mein Referat.

Wachsende Kriminalität, zunehmende Gewalt, "Kriminelle Ausländer", Neonazismus und "Organisiertes Verbrechen" machen schon jahrelang dicke Schlagzeilen. Aber jeweils in Vorwahlzeiten eskaliert die öffentliche Debatte um die sog. Innere Sicherheit in schöner Regelmäßigkeit: hartes Durchgreifen und Null-Toleranz haben Hochkonjunktur. Einst Domäne der CDU/ CSU und weiter rechts angesiedelter Parteien, versucht die SPD seit Jahren, den traditionellen Hardlinern den Rang abzulaufen. Mit ihren law-and-order-Parolen suchen sich Politakteure ganz unterschiedlicher Couleur gegenseitig zu übertrumpfen. Keine Partei, kein Politiker hat den Mut, sich dieser Debatte zu verschließen oder ihr aber auf differenzierte Weise anzunehmen, denn: Wer dieses Thema vernachlässige, den bestrafe der Wähler, der sich nichts sehnlicher herbeiwünsche, als den starken Staat - so jedenfalls die gängige Begründung für diesen politischen "Sicherheitsextremismus".

I. Schwindendes Sicherheitsgefühl und Allmachtsphantasien
In der herrschenden Sicherheitsdebatte spielen vor allem in Vorwahlzeiten Feindbilder und Sündenböcke eine ganz zentrale Rolle. Seit der deutschen Vereinigung und mit Ende des "Kalten Krieges" sind zwar die alten "inneren (Staats-) Feinde" früherer Jahrzehnte abhanden gekommen, doch längst gibt es neue: Waren es früher Kommunisten, später "Linksextremisten" und "Terroristen", so sind es in den 90er Jahren vor allem "Organisierte Kriminelle" und "kriminelle Ausländer". Sie dienen heutzutage als populäre Legitimation für allerlei staatliche Nachrüstungsmaßnahmen.

Folgt man den Seismographen der Gewalt, so hat seit Beginn der 90er Jahre die Brutalität in dieser Gesellschaft enorm zugenommen. Tatsächlich werden zunehmend Angehörige von sozialen Minderheiten - Ausländer, Behinderte, Obdachlose, Homosexuelle - Opfer von Gewalttaten. Gerade Angehörige solcher Minderheiten, die in der Gesamtbevölkerung nicht gerade viel Sympathie genießen, haben allen Grund, sich vor gezielten - zumeist rechtsradikalen, aber auch polizeilichen - Übergriffen zu ängstigen. Doch es sind die besser situierten Bürgerinnen und Bürger, die sich offenbar am meisten bedroht fühlen, obwohl sie doch gute Schutzmöglichkeiten haben und zudem eine bessere Lobby als die (potentiellen) alltäglichen Opfer der Gewalt. Mit dem Wohlstand scheint auch das Sicherheitsbedürfnis zu wachsen, mit dem die stetig gesteigerten Sicherheitsmaßnahmen jedoch niemals (werden) Schritt halten können. In der öffentlichen Debatte um die in einzelnen Deliktsfeldern und Regionen tatsächlich wachsende (1997 allerdings wieder rückläufige) Kriminalität, um das politisch hochdramatisierte "organisierte Verbrechen", die zunehmende Drogenkriminalität und Jugendgewalt - in dieser Debatte wird nur höchst selten nüchtern und differenziert analysiert; zumeist gerät die Lage unter Darstellung grauenerregender Bedrohungsszenarien, garniert mit brutalen Einzelfällen, massenmedial zum bluttriefenden Horrorstück. Vor diesem Schreckensbild vom "Tatort Deutschland" spielt die subjektive Komponente eine immer wichtigere Rolle: Das demoskopisch ständig gemessene "Sicherheitsgefühl" der Deutschen, dessen Niedergang mit der objektiven Lage in keinem Verhältnis steht, wird zum absoluten Gradmesser der herrschenden Sicherheitspolitik erkoren, an dem kein Politiker und keine Partei mehr vorbeizukommen glaubt, wenn sie denn gewählt werden wollen. Statt nüchtern zu analysieren und mit Augenmaß abzuwägen, werden die an den Stammtischen der Nation produzierten Angstbeißereien und Allmachtsphantasien vollkommen unkritisch übernommen, in politische Forderungen transformiert, quasi politikfähig gemacht und so vervielfältigt, verstärkt unters Wahlvolk verteilt.

Insbesondere seit der deutschen Einheit und nach Ende des Kalten Krieges scheint der individuelle Hunger nach Sicherheit in der Bevölkerung rasant zugenommen zu haben. Er scheint unstillbar geworden in einer Zeit der sozialen, ökonomischen, psychischen Unsicherheiten, der verschärften ökonomischen Krise und Verteilungskämpfe; er scheint unstillbar geworden in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit und eines rigorosen Sozialabbaus, in einer Welt mit verstärkten Wanderungsbewegungen als Folge des verschärften Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost.

Soziale Unzufriedenheit und Enttäuschungen nach der Vereinigung Deutschlands, drohende Deklassierung, Wohlstandschauvinismus, latent vorhandene rechtsgerichtete Stimmung und Fremdenangst in der Bevölkerung - diese hochexplosive Gemengelage bildet gerade in Wahlzeiten den Nährboden, auf dem eine Politik der "Stärke", der Diskriminierung von Minderheiten und der Dehumanisierung ihre rechten "Früchte" trägt.

Auf diesem Nährboden staatsautoritärer Fixierung und mangelnder bürgerlich-demokratischer Tradition feiert die konservative Sicherheitskonzeption eines hochgerüsteten starken Staates populistische Triumphe - während übriggebliebene liberale Zweifler, gleichermaßen als "Bedenkenträger" und "Verharmloser" desavouiert, massiv unter politischen Druck gesetzt werden. Selbst bislang als (links-)liberal geltende Kräfte und ehedem staatskritische Geister scheinen angesichts dieses Drucks zunehmend bereit, bürgerrechtliche und liberal-rechtsstaatliche Positionen im Kampf gegen die "neuen Bedrohungen" nach und nach zu räumen.

Das sich zunehmend ausbreitende Gefühl sozialer Unsicherheit in der Bevölkerung scheint mit gezielten Kampagnen der "Inneren Sicherheit" erfolgreich in eine alles überwuchernde Furcht vor Kriminalität, vor "Überfremdung" und Unordnung umfunktioniert worden zu sein. Statt Ursachen für Gewalt und Kriminalität zu ergründen und sozialverträgliche Lösungsversuche zu starten, werden der höchst anfälligen Bevölkerung die gerade aktuellesten Sündenböcke präsentiert: (Organisierte) Kriminelle, Drogenkonsumenten, Sozialschmarotzer, Ausländer, Asylanten, Flüchtlinge, einfach Fremde und Ausgegrenzte, denen staatlicherseits ein harter Abwehrkampf angesagt worden ist. Entsprechend sehen die neueren "Rezepte" zur Beruhigung des gebeutelten Sicherheitsgefühls aus:

Polizeiaufrüstung, Geheimdienst--Expansion, Polizei- und Strafrechtsverschärfungen, Aufenthaltsverbote, Verdachtsunabhängige Kontrollen, Verdeckte Ermittler, Kronzeugenregelung, Großer Lauschangriff, Beweislastumkehr, beschleunigte Strafverfahren und erleichterte Abschiebung von Ausländern, Sicherheitsnetze und Nulltoleranz gegenüber unliebsamen Minderheiten, öffentlicher Unordnung und Bagatelldelikten. Der wachsenden sozialen Unsicherheit und Ungerechtigkeit wird also mit der Keule der "Inneren Sicherheit" begegnet und der "Sicherheitsstaat" in dem Maße aufgerüstet, wie der Sozialstaat abgetakelt wird. Die Verfechter dieser polizeilichen "Lösung" sozialer Konflikte und Probleme scheuen sich schon lange nicht mehr, tief in die Substanz der Bürgerrechte einzugreifen, was bereits zu einem dramatischen Grundrechte-Zerfall geführt hat.

II. Große Koalition der "Inneren Sicherheit"
Für diese Entwicklung ist nicht allein die seit über anderthalb Jahrzehnten regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP verantwortlich, sondern auch ein Teil der parlamentarischen Opposition im Bundestag. Denn seit der deutschen Vereinigung begibt sich die vermeintliche Oppositions-Partei SPD bevorzugt in Vorwahlzeiten ohne äußere Not in eine "Große Koalition der Inneren Sicherheit" mit den regierenden Bundesparteien. Über ihre Motivation läßt sich trefflich spekulieren: Die Jagd nach Wählern allein ist für dieses Verhalten nicht Erklärung genug. Es scheint wohl eher die immer noch latent wirkende uralte Existenzangst, im Falle der Verweigerung als "vaterlandslose Gesellen" und "unsichere Kantonisten" in schwierigen Zeiten gebrandmarkt zu werden. Diese Angst muß wohl zeit- und grenzenlos sein und scheint die SPD auch heute noch zu beflügeln, die CDU/ CSU gerade in Fragen der "Inneren Sicherheit" in rasantem Tempo rechts zu überholen, um auf diese Weise ihre staatstragende Rolle, ihre Politikfähigkeit und Regierungstauglichkeit zu demonstrieren. 2 herausragende Beispiele:

1. Beispiel:
Demontage des Asylgrundrechts

Nach einer demagogisch geführten Asyldebatte um eine angebliche "Asylantenflut", um "Asylbetrüger", "Kriminelle Ausländer" und eine "durchrasste Gesellschaft" hat die SPD im Jahre 1993 - Wahljahr war 1994 - der Regierungskoalition zu einer verfassungsändernden Zweidrittel-Mehrheit verholfen und damit die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts (Art. 16 GG) ermöglicht. Fremdenhaß und Neonazi-Terror gegen Asylbewerber und weitgehend rechtlos gestellte Ausländer wurden nicht etwa zum Anlaß genommen, die Rechte der Opfer zu verbessern, sie wirkungsvoll zu schützen, die Gewalttäter rasch zu stoppen und mitsamt ihrem beifallklatschenden Umfeld zur Verantwortung zu ziehen - nein: Diese kriminellen Attacken wurden zu allererst zum Anlaß genommen, die Stimmung gegen eben diese ungeliebten Gewaltopfer kampagnenartig zu verstärken. Das Ergebnis ist bekannt: Die Kampagne mündete in einen sog. Kompromiß, der kompromißlos die Aushöhlung des Asylgrundrechts bewirkte, ergänzt um mannigfache Maßnahmen zur Abschottung gegen Flüchtlinge bzw. zu deren Disziplinierung.

2. Beispiel:
Großer Lauschangriff auf die Unverletzlichkeit der Wohnung

Im Vorfeld des Super-Wahljahres 1998 hat die SPD mit ihrem Stimmenpotential die Demontage des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung und damit die Legalisierung des "Großen Lauschangriffs" in und aus Wohnungen ermöglicht. Vor der endgültigen Entscheidung im Bundesrat machte die SPD-Führung den Gegnern und Kritikern innerhalb der Partei das Leben reichlich schwer. Der Bremer Bürgermeister Henning Scherf wurde so lange mit Verweis auf die anstehende Niedersachsen-Wahl im März und die Bundestagswahl im Herbst 1998 unter politischen Druck gesetzt, bis er sich schließlich mit seiner "Sowohl-als-auch"-Entscheidung im Bundesrat zum "Umfaller des Jahres" (Bündnis 90/Die Grünen) beförderte: Mit den Stimmen Bremens rettete die SPD einerseits eine Zweidrittel-Mehrheit für die Demontage des Art. 13 GG zur Legalisierung des Großen Lauschangriffs, sorgte aber andererseits dafür, daß das ausführende Lauschgesetz im Vermittlungsausschuß des Bundesrates nachgebessert werden konnte. Bei der Nachbesserung ging es in erster Linie um den Kreis der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen, die vom Lauschangriff ausgenommen werden sollen. Der ursprüngliche "Kompromiß", den der SPD-Abgeordnete Otto Schily mit den Regierungfraktionen ausgehandelt hatte, sah vor, daß selbst zeugnisverweigerungsberechtigte Personen, wie Ärzte, Anwälte, Journalisten und Angehörige von Beschuldigten, abgehört werden dürfen. Ein klares Abhörverbot sollte lediglich gegenüber Geistlichen, Strafverteidigern und Abgeordneten gelten. Nun konnte mit den Stimmen der SPD sowie einiger FDP-, Grünen- und PDS-Abgeordneten im Bundestag das Lauschverbot auf Anwälte, Journalisten, Ärzte, Psychotherapeuten, Steuerberater, Drogenberater und einige weitere Berufsgeheimnisträger ausgedehnt werden, um auch diese speziellen Vertrauensverhältnisse zu schützen.

Bei diesem Resultat und dem ganzen Streit um wanzenfreie Zonen darf jedoch folgendes nicht übersehen werden:

  1. daß es sich hier um eine Regelung in einem einfachen Gesetz handelt, das jederzeit von einer einfachen Parlamentsmehrheit wieder geändert werden kann. Solche Abhörverbote sind also keineswegs verfassungsfest;
  2. daß andere zeugnisverweigerungsberechtigte Personen, wie nahe Angehörige und Verwandte von Beschuldigten nicht geschützt werden, ihre strafprozessualen Rechte also verletzt werden können;
  3. daß zwar nach wie vor der Grundsatz gilt: Niemand muß sich selbst belasten und selbstbelastende Aussagen dürfen nicht verwertet werden, sofern eine Belehrung über das Schweigerecht ausgeblieben ist. Doch diese Belehrungspflicht wird umgangen, wenn ein Verdächtiger im Gespräch innerhalb seiner Wohnung, gegenüber seiner Familie oder Angehörigen ein Geständnis ablegt und dabei gezielt abgehört wird.
Kein grundsätzlicher Schutz von Vertrauensverhältnissen
Meine These lautet: Mit der Legalisierung des Großen Lauschangriffs sind besondere Vertrauensverhältnisse grundsätzlich nicht mehr zu schützen - egal, ob sie nun mit einem Abhörverbot oder einem Beweisverwertungsverbot geschützt werden sollen oder nicht. Die ganze Diskussion um die Verschonung von Zeugnisverweigerungsberechtigten ist in gewisserweise eine Geisterdebatte, die von der grundsätzlichen Problematik ablenkt: Im Fall von Lauschangriffen können Zeugnisverweigerungsrechte von Anwälten, Ärzten, Journalisten, Abgeordneten, Geistlichen, Drogenberatern etc. selbst dann zur Makulatur werden, wenn der Angriff nicht gezielt auf Wohnung oder Büro des Berufsgeheimnisträgers ausgeübt wird. So wird etwa das Vertrauensverhältnis auch dann gestört, wenn der Hausarzt seinen Patienten zuhause behandelt, oder der Seelsorger den Gläubigen besucht, dessen Wohnung abgehört wird, oder der Journalist seinen Informanten trifft. Oder der freie Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger wird auch dann beeinträchtigt, wenn dieser mehr oder weniger zufällig in der abgehörten Wohnung des Überwachten anwesend ist. Selbst ein nachträgliches Verwertungsverbot in solchen Fällen würde nicht die bereits eingetretenen Nachteile beseitigen können - denn dann hätte die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft schon Kenntnis erlangt etwa von der besprochenen Verteidigungsstrategie. Einmal erlangtes Wissen ist kaum noch aus dem Gedächtnis zu tilgen und kann zumindest als neuer Ermittlungsansatz dienen.

Beim "Großen Lauschangriff" handelt es sich bekanntlich um die heimliche elektronisch-akustische Ausforschung des nichtöffentlich gesprochenen Wortes, um die heimliche Ausforschung von Lebensäußerungen aller Art in oder aus einer Wohnung, einem Büro oder Hotelzimmer etc. zum Zwecke der Strafverfolgung. Das Abhören und Aufzeichnen kann entweder durch heimlich in der Wohnung versteckte Abhörgeräte (elektronische Wanzen), oder aber durch hochempfindliche Richtmikrophone oder per Laserstrahl von außen erfolgen.

Schon bislang gibt es schwerwiegende polizeiliche Eingriffe in das Grundrecht der "Unverletzlichkeit der Wohnung": da ist einmal die Wohnungsdurchsuchung, dann die Telefonüberwachung, das Eindringen von Verdeckten Ermittlern in Wohnungen zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, der sog. Kleine Lauschangriff zur Absicherung eines in einer Wohnung eingesetzten Verdeckten Ermittlers (die sog. "bemannte Wanze"); dann der Lausch- und Spähangriff zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr nach den meisten Polizeigesetzen des Bundes und der Länder und darüber hinaus ist zu Strafverfolgungszwecken bereits der Lausch- und Spähangriff außerhalb von Wohnungen legalisiert worden. Ganz zu schweigen von den Lausch- und Spähangriffen der Geheimdienste - des Verfassungsschutzes, Bundesnachrichtendienstes und Militärischen Abschirmdienstes.

Kein Schutz von Wohnungen Unverdächtiger bzw. bloßen Kontaktpersonen
Zurück zum Großen Lauschangriff: Als Voraussetzung muß noch nicht einmal ein dringender Tatverdacht gegenüber dem Abzuhörenden erforderlich sein, sondern lediglich ein einfacher Verdacht. Zwar dürfen Abhörmaßnahmen grundsätzlich nur in Wohnungen und Geschäftsräumen des Beschuldigten durchgeführt werden. Aber auch in Wohnungen anderer Personen - also auch vollkommen unverdächtiger Dritter - sind solche Maßnahmen dann zulässig, wenn sich der Beschuldigte "vermutlich" darin aufhält.

Beispiel: Die Wohnung einer völlig unbescholtenen Familie kann abgehört werden, wenn dort etwa ein Fest gefeiert wird und möglicherweise jemand mitfeiert, der des Drogenhandels verdächtigt wird. Dabei werden Gespräche und sonstige Lebensäußerungen von einer Vielzahl von Personen erfaßt und anschließend ausgewertet: von Lebensgefährten, Freunden, Bekannten und sonstigen möglichen Kontaktpersonen des Verdächtigen.

Die penetrante Sprachregelung, der Lauschangriff betreffe ausschließlich "Gangsterwohnungen", ist also falsch und bewußt irreführend. Denn auch Wohnungen vollkommen unbeteiligter und unverdächtiger Personen können nach dem vorliegenden Gesetz abgehört werden.

In der bisherigen Debatte wird kaum thematisiert, daß es dem Staat bzw. staatlichen Bediensteten künftig auch erlaubt werden soll, in Wohnungen einzubrechen oder aber sich per Täuschung Zutritt zu verschaffen ("Ich komme von den Stadtwerken...", bin "Handwerker"), um die Wanze anzubringen und ggfls. wieder abzuholen - obwohl für einen solchen Einbruch im Dienst keine spezielle gesetzliche Grundlage existiert, er wird lediglich denknotwendig vorausgesetzt: Der Staat als Täter, der Polizeibeamte als straflos gestellter Einbrecher im Dienste der "guten Sache", nämlich der Bekämpfung der sog. Organisierten Kriminalität. Die Betroffenen - ob beschuldigt oder in ihrer Mehrheit unverdächtig - haben keine Ahnung davon, daß ihr Privatraum möglicherweise bereits heimlich betreten worden ist, um elektronische Abhöreinrichtungen, wie etwa Wanzen hinter Schränken oder unter Betten zu installieren oder daß sie mit hochempfindlichen Richtmikrophonen oder Laserstrahlen in ihren intimsten Lebensbereichen überwacht und ausgeforscht werden.

Grundrechtseingriff von höchster Intensität
Voraussetzung für die Entfaltung des Individuums und seiner freien Entwicklung ist die Aufrechterhaltung eines privaten Raumes, in dem sich der Mensch vollkommen unbeobachtet bewegen kann und nicht befürchten muß, dort vom Staat überwacht und kontrolliert zu werden. Die Absicherung privater Räume vor staatlicher Überwachung war historischer Grund für die verfassungsrechtliche Verankerung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Die freie Kommunikation - ohne Angst vor staatlichen Mithörern - ist eine der wesentlichen Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie. Der "Große Lauschangriff" stellt einen Grundrechtseingriff von höchster Intensität dar, der m.E. gegen die Verfassung - gegen die Menschwürde und das informationelle Selbstbestimmungsrecht - verstößt.

Aber die Profis der anderen Seite, die wirklich organisierten Kriminellen, um die es ja vorgeblich geht, die werden sich gegen den Großen Lauschangriff schützen können: Sie werden entweder ihre Wohnungen und Arbeitsräume meiden, um Taten zu planen, schließlich gibt es noch andere Orte auf weiter Flur; oder sie werden sich mit abhörsicheren Räumen, elektronischen Spürgeräten oder Störmanövern (Wasser/Musik, Sprachverschleierung etc.) zu schützen wissen. Es läßt sich also voraussehen: Abgehört werden nicht die "Gangsterwohnungen", denn die sind im Zweifel bestens abgeschirmt; abgehört werden solche Wohnungen von Unverdächtigen, in denen sich mutmaßlich Täter aus welchen Gründen auch immer aufhalten könnten.

Die öffentliche Diskussion um den Großen Lauschangriff hat sich sehr rasch auf die Zeugnisverweigerungsberechtigten Personen konzentriert. Diese verengte Sichtweise ist leider auch typisch gewesen für die Opposition, die nur sehr schleppend, eigentlich erst seit Anfang dieses Jahres in Gang gekommen ist - das gilt für die Berufsverbände der Ärzte, Anwälte, Journalisten und Pastoren gleichermaßen. Eigentlich erst als es fast zu spät war, verstärkte sich der öffentliche Druck auch von seiten der Presse (u.a. Spiegel) und der Gewerkschaften. Daß damit wenigsten etwas erreicht werden kann, zeigt das nachgebesserte Ergebnis, das gegenüber der ursprünglichen Fassung immerhin als "kleineres Übel" bezeichnet werden kann.

Doch die grundsätzlichen Bedenken bleiben. Auch die "rechtsstaatlichen Hürden" - also Vorabkontrolle durch Richterkollegium und spezielle Parlamentarische Kontrolle -, die aufgebaut worden sind und mit denen für den Großen Lauschangriff geworben wurde, können an diesem Befund nichts mehr ändern. Die einschränkende Wirkung dieses "Hindernislaufs der Wanzen" wird schon dadurch entwertet, daß auch ein Richterkollegium letztlich bei seiner Vorabkontrolle ausschließlich auf die Darlegungen der Polizei angewiesen sein wird, die Sachverhaltsdarstellung also allein der Definitionsmacht der Polizei unterliegt. Daß der sog. Richtervorbehalt als rechtsstaatliche Sicherung bei verdeckten Maßnahmen immer Gefahr läuft, zu versagen, belegt in aller Deutlichkeit der exzessive Umgang mit der Telefonüberwachung in Deutschland, die trotz richterlicher "Kontrolle" jährlich über 8.000mal durchgeführt wird (1996). Die Bundesrepublik ist trotz Richtervorbehalts das westeuropäische Land mit den meisten abgehörten Telefonanschlüssen. Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen: Sie haben sich von 1989 bis 1993 nahezu verdoppelt auf knapp 4.000, um 1996 auf über 8.000 anzuwachsen. Dabei werden Millionen von Gesprächen auch vollkommen unverdächtiger Personen abgehört - von Verwandten, Bekannten, Freunden und Zufallskontakten mutmaßlicher Straftäter. Heimliche Kommunikationsüberwachung ist eine "breit streuende Waffe", weshalb auch die Wanze, hat sie erst Verfassungsrang, kaum zu bremsen sein wird.

Sicherheitspolitisches Umfeld des "Großen Lauschangriffs"
Gegenwärtig wird der "Sicherheitsstaat" in dem Maße aufgerüstet, wie der Sozialstaat abgetakelt wird - was zwangsläufig zu einem dramatischen Grundrechtezerfall führen muß. Doch die Politik der permanenten Nachrüstung im Bereich der "Inneren Sicherheit" ist längst schon kläglich gescheitert - schließlich ist trotz dieser Aufrüstungspolitik die (Massen- und Gewalt-) Kriminalität in bestimmten Bereichen und Regionen weiter angewachsen und haben sich Phänomene herausgebildet, die heute als sog. Organisierte Kriminalität die neue Legitimation abgeben für das beharrliche Weiterschrauben an der Rüstungsspirale. Solange nicht die sozialen und ökonomischen Ursachen und Bedingungen von Kriminalität und Gewalt bekämpft werden, sondern mit Scheinlösungen ausschließlich an den Symptomen angesetzt wird, solange wird sich nichts zum Positiven ändern.

Im Zuge der herrschenden Sicherheitspolitik kommt es schon längst zu Grenzüberschreitungen jenseits der Verfassung: Die Polizei bekam nachrichtendienstliche Befugnisse zugestanden, den Geheimdiensten werden (im Bereich der OK) z.T. polizeiliche Aufgaben übertragen, das verfassungsgemäße Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten - die längst durchlöchert ist - wird offen zur Disposition gestellt und eine verfassungswidrige Geheim-Polizei billigend in Kauf genommen.

Seit Beginn der 90er Jahre wurde mit dem OrgKG (1992), dem sog. Verbrechensbekämpfungsgesetz (1994), der Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, dem Ausländerzentralregistergesetz (1994), dem BGS- und BKA-Gesetzes (1994 resp. 1997) sowie mit diversen Verschärfungen der StPO der Schutzstandard für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung drastisch verschlechtert.

"Organisierte Kriminalität" als politischer Kampfbegriff
Das (in einzelnen Deliktsfeldern und Regionen tatsächlich vorhandene) Gefahrenpotential der "Unterwelt"-OK ist in den vergangenen Jahren politisch dramatisiert und für eine angsterregende Sicherheitskampagne instrumentalisiert worden. Die OK - als neuer "Staatsfeind Nr. 1" - wurde zu einem politischen Kampfbegriff, mit dem (noch) liberale Kräfte (und die SPD) unter massiven politischen Druck gesetzt werden konnten. Die OK wurde zur populären Legitimation für staatliche Aufrüstungsmaßnahmen und Gesetzesverschärfungen - vergleichbar den anderen großen Legitimationsformeln der vergangenen Jahrzehnte: Kommunismus, "Linksextremismus" und "Terrorismus", mit dessen politischer Dramatisierung ebenfalls innere Angst- und Aufrüstungspolitik betrieben worden ist.

Diese Politik führte damals zu einem höchst problematischen "Anti-Terror"-Sonderrechtssystem, das die Bürgerrechte erheblich demontierte (bis heute ist keines der damaligen "Ausnahmegesetze" aufgehoben worden). Mit dem OrgKG, dem "Verbrechensbekämpfungsgesetz" und den neuen Länderpolizeigesetzen ist in den 90er Jahren der Grundstein für ein neues, ausbaufähiges "Anti-OK"-Sonderrechtssystem gelegt worden, mit dem im wesentlichen geheimpolizeiliche bzw. nachrichtendienstliche Mittel und Methoden der staatlichen Überwachung, Konspiration und Infiltration weit im Vorfeld von strafbaren Handlungen legalisiert worden sind: Verdeckte Ermittler mit falscher Identität (Legenden), Tarnnamen und Tarnpapieren; V-Leute aus kriminellen Milieus, Lausch- und Spähangriffe mit Wanzen, Richtmikrophonen, Peilsendern, Videokameras etc., Rasterfahndung und langfristige polizeiliche Beobachtung mit der Möglichkeit, Persönlichkeitsprofile und Bewegungsbilder von Verdächtigen, Kontakt- und Begleitpersonen zu erstellen; die flächendeckende Kontrolle der Auslandstelefonate durch den BND nach dem "Staubsaugerprinzip", die bislang nur für den Drogen- und "Terrorismus"-Bereich geltende, höchst umstrittene Kronzeugenregelung sowie der Zeugenschutz, d.h. die Ermöglichung der Geheimhaltung der Identität und des Wohn- bzw. Aufenthaltsortes eines gefährdeten Verdeckten Ermittlers oder einer V-Person vor Gericht - mit der Folge tendenzieller Geheimprozesse. Der Einsatz geheimer polizeilicher bzw. nachrichtendienstlicher Methoden führt zwangsläufig zu geheimjustitiellen Folgen.

Die Rolle der Polizei hat sich im Laufe dieser Entwicklung erheblich verändert. Verdeckte Ermittler und verdeckte Ermittlungen mit technischen Mitteln verwischen die Grenze zwischen Polizei und Nachrichtendienst und verletzen das auf Grund der Erfahrungen mit Gestapo und Stasi in Deutschland notwendige Trennungsgebot". Eine nicht zu unterschätzende Gefahr der OK ist gerade in ihrer Bekämpfung mittels solcher Spezialermächtigungen zu sehen. Denn mit ihrer Hilfe wird in Grundprinzipien der Verfassung, des Strafprozesses und des Datenschutzes eingegriffen - zu Lasten der Beschuldigten, aber auch einer Vielzahl gänzlich unbeteiligter oder unverdächtiger Dritter. - Eine wachsende staatliche Kontrolldichte ist der Preis dieser Sicherheitspolitik, die sich der vielfältigen Formen und Möglichkeiten von Telekommunikation bedient und das Fernmeldegeheimnis systematisch abbaut. Der Mensch mutiert zu einem potentiellen Sicherheitsrisiko, der bürgerliche Rechtsstaat hat sich auf den Weg von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft gemacht, einer Gesellschaft, die dem Kontrollideal der Geheimdienste folgend, präventiv kontrolliert und Überwachungsdaten auf Vorrat sammelt und verarbeitet: "Die aktuelle Kriminal- und Kontrollpolitik birgt (...) in sich eine scharfe, eine aggressive Wendung gegen die traditionellen Prinzipien des Rechts und der Strafverfolgung" (Sebastian Scheerer) und gerät als vorbeugende und repressive "Kriminalitätsbekämpfung" zur inneren Feindbekämpfung, deren Betreiber bestens nach angepaßt und abweichend, nach gut und böse, nach arm und reich, links und rechts zu sortieren und zu urteilen verstehen.

Sicherheit des Staates oder Freiheitsrechte der Bürger?
Ich frage Sie: Wo soll das alles enden? Kann und darf es eine staatliche "Waffengleichheit" mit dem "Organisierten Verbrechen", wie sie immer wieder angestrebt wird, überhaupt geben? Eine wahrlich bange Frage, wenn man bedenkt, daß ein demokratischer Rechtsstaat nicht alles können dürfen soll, was denkbar und machbar erscheint, es sei denn um den Preis, mit einer solchen Eskalation in ein illiberal-autoritäres Regime abzugleiten, das der Sicherheit und dem Strafanspruch des Staates absolute Priorität gegenüber den individuellen Freiheitsrechten der Bürger einräumt. Auf diesem Wege sind wir schon allzu weit vorangeschritten.

Dieses Land kann sich keine staatlich organisierte "Gegen-Mafia" leisten, die mit der "Organisierten Kriminalität" Schritt hält und sie bis zur Verwechselbarkeit zu durchdringen versucht. Dieses Land verträgt - schon aus historischen Gründen - keine "Geheim-Polizei", die in der Lage ist, gesellschaftliche Bereiche zu infiltrieren und die sich der öffentlichen Kontrolle mehr und mehr entziehen kann. Denn: Im demokratischen Rechtsstaat kann es keine "Waffengleichheit" mit dem organisierten Verbrechen geben, es sei denn um den Preis von staatlich (mit)organisierter Kriminalität (was es teilweise schon gibt), von staatlicher Machtkonzentration zu Lasten der Bürgerrechte, um den Preis einer nicht mehr kontrollierbaren Polizei und einer partiellen Geheimjustiz.

Wann endlich wird sich die Erkenntnis durchsetzen, daß wir uns in Deutschland - schon aus historischen Gründen - unbeschränkte staatliche und polizeiliche Aufrüstung nicht leisten können, daß systematische Gefahren für Menschen und Menschenrechte nicht zuletzt auch von staatlicher Seite, vom staatliche organisierten Gewaltapparat drohe? In der deutschen Geschichte war die Freiheit jedenfalls mehr von der Obrigkeit und der Staatsgewalt, von ökonomischen Expansionsinteressen, von staatlich-gesellschaftlichen Strukturdefekten und vom "gesunden Volksempfinden" bedroht als etwa von gesellschaftlichen Außenseitern oder von sozialen und politischen Minderheiten, denen sich Polizei und Geheimdienste so überaus vehement widmen. Der starke und autoritäre Staat mit seiner "law-and-order"-Ideologie steht rechts und ist eine der größten Gefahren für die Demokratie eines Landes - vor allem wenn es Deutschland heißt.

Verdachtsunabhängige Kontrollen
Zur Kontrolldichte stark beigetragen haben der Große Lauschangriff und die rechtliche Absicherung von Europol - wobei die Europolizisten strafrechtliche Immunität genießen sollen, d.h. für unzulässige Handlungen nicht belangt werden können. Aber auch neuartige Jedermann-Kontrollen erhöhen die Kontrolldichte: In Niedersachsen ist 1997 die sog. verdachts- und anlaßunabhängige Kontrolle gesetzlich verankert worden - ähnlich wie sie als sog. Schleierfahndung in Sachsen, Baden-Württemberg, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern bereits zuvor legalisiert worden ist. Die anlaß- und verdachtsunabhängige "Schleierfahndung" wird insbesondere in jenen Bundesländern legalisiert, die eine Grenze zum Ausland haben. Damit soll im Europa der "offenen Grenzen" die grenzüberschreitende Kriminalität mit einem frei flottierenden Kontrollschleier aufgespürt werden. Das heißt: Die früheren Zollkontrollen an den Außengrenzen verlagern sich auf diese Weise ins Innere des Landes und werden für die Betroffenen unberechenbar.

In Bayern ist diese Massenkontrolle u.a. als "Selektionsmaßnahme" ausgestaltet, mit der das potentiell Böse von der Straße weg "selektiert" werden kann, wie einem Erfahrungsbericht des Bayerischen Innenministeriums (Stand: September 1996) zu entnehmen ist:

"Vor der Kontrollstelle befinden sich auf dem abgesperrten Fahrstreifen ein oder zwei Selektierer (besonders geschultes Auge!), die durch einen Blick in den Fahrzeuginnenraum anhand festgelegter Raster die zu kontrollierenden Fahrzeuge auswählen und über Funk den Anhalteposten melden... Von diesen werden die selektierten Fahrzeuge in einen abgesetzten Kontrollplatz gewiesen. Der Einsatzerfolg steht und fällt mit diesen Selektierern."

Im Rahmen sog. anlaß- und verdachtsunabhängiger Kontrollen kann die Polizei ohne jeglichen Anlaß und ohne jeglichen Straftatenverdacht jede beliebige Person, die sich "im öffentlichen Verkehrsraum" befindet, kurzzeitig anhalten, befragen, mitgeführte Ausweispapiere überprüfen und Sachen in Augenschein nehmen. Mit dieser voraussetzungslosen "Jedermanns"-Kontrolle wird der Bürger praktisch zum Sicherheitsrisiko erklärt, jederzeit und im ganzen Land kann er auf seine Harmlosigkeit überprüft werden (Kompensation für Wegfall der Außengrenzen; frei flottierende Verlagerung ins Landesinnere).

Apropos Kontrolldichte: Auch das sog. Sicherheitsnetz von Polizei, städtischen Behörden, Bürgern und privaten Sicherheitsdiensten, das Bundesinnenminister Kanther über Großstädte spannen will und in dessen Zentrum der Bundesgrenzschutz (BGS) stehen soll. Alle Straftaten und Ordnungsverstöße, bis hin zu bloßen Bagatelldelikten, sollen unter diesem Netz entschlossen verfolgt werden.

Aushöhlung des Grundrechts auf Freizügigkeit
Auch das Grundrecht auf Freizügigkeit und auf Versammlungsfreiheit wird weiter ausgehöhlt: 1996 beschritt das SPD-regierte Niedersachsen einen neuen Weg der präventiven Intoleranz. Erstmalig wurde in einem bundesdeutschen Polizeigesetz das sog. Aufenthaltsverbot legalisiert. Diese Regelung ergänzt die bislang schon in ganz Deutschland legalisierten (kurzfristig und kleinräumig gedachten) polizeilichen Platzverweise. Die neue Norm hat folgenden Wortlaut: "Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, daß eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen wird, so kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung. Örtlicher Bereich ... ist ein Ort oder ein Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder auch ein gesamtes Gemeindegebiet..." Mit dieser recht unbestimmten Regelung kann die Polizei ohne gerichtliche Anordnung ganze (Groß)Städte, Stadt- und Gebietsteile gegen unliebsame Individuen und Bevölkerungsgruppen abschotten - nicht nur gegen Punks, die Randale machen könnten, sondern auch gegen Drogenabhängige, denn die könnten ja dealen, gegen Sozialhilfeempfänger oder Sintis und Roma, denn die könnten ja klauen, überhaupt gegen Ausländer, denn die könnten gegen Strafbestimmungen des Ausländerrechts verstoßen, gegen Kurden, denn die könnten gegen das PKK-Verbot verstoßen, aber auch gegen Bettler, Obdachlose und Nichtseßhafte, denn die könnten etwa auf Baustellen oder in Hausfluren nächtigen (Hausfriedensbruch) - um nur einige Beispiele zu nennen. Nicht zuletzt die zu erwartenden Auseinandersetzungen um die EXPO 2.000 dürften ein weites Anwendungsfeld für das polizeiliche Aufenthaltsverbot und die verlängerte Vorbeugehaft bieten. Diese Ermächtigung beschränkt die grundgesetzlich garantierte Handlungsfreiheit und Freizügigkeit nach Art. 2 und Art. 11 Grundgesetz.

Bei den "Chaos-Tagen" 1996 wurde diese Vorschrift erstmals angewandt. Die "Sicherheit und Ordnung" in Hannover wurde mit einem großflächigen Versammlungsverbot, mit einem Großaufgebot von über 6.000 Polizeibeamten - das sind doppelt so viele wie 1995 -, mit über 2.000 Platzverweisen und Aufenthaltsverboten aufrechterhalten. Eine Verfügung aus dem Hause von Innenminister Glogowski ("Glogo", SPD), mit der die sog. "Chaos-Tage" 1996 in Hannover verboten wurden, enthielt den aufschlußreichen Passus vom "systemtreuen Bürger", von dem sich der gemeine Punk deutlich unterscheide. Auf die Frage, wie ein solcher "Systemtreuer" denn aussehe, antwortete der Innenminister treuherzig: "Ein systemtreuer Bürger sieht so aus wie ich." Wohl denn: Nur noch geklonte Glogos werden künftig niedersächsische Polizeisperren passieren dürfen.

Ein SPD-Polizeiminister räumt auf
Die Polizei hat im Verlauf dieser Chaos-Tage gegen den Verfassungsgrundsatz verstoßen, daß niemand allein etwa wegen seiner Haarfarbe oder Kleidung benachteiligt werden darf, in dem Platzverweise und Aufenthaltsverbot etwa mit "Punkertypisches" bzw. "punkerähnliches Aussehen" oder "der Punk-Szene zuzuordnen" etc. begründete. Das Polizeigesetz wurde in diesen Fällen in eklatant diskriminierender Weise angewandt.

Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Unterbindungsgewahrsam entpuppen sich nicht nur während sog. "Chaos-Tage" als Instrumente der "Szene(n)bekämpfung". Es handelt sich hier, wie auch im Drogen- und Obdachlosenbereich sowie bei An- und Versammlungen letztlich um Instrumente der sozialen und politischen "Säuberung" von Innenstädten, Konsummeilen, bestimmten "besseren" Stadtteilen und Wohngegenden: "Punkerfrei", "Junkiefrei", "Pennerfrei", "Bettlerfrei ". Polizeiminister Glogowski hat in der Vorwahlzeit per Erlaß an seine Polizeibeamten die Parole ausgegeben, künftig zusammen mit dem Bundesgrenzschutz (im Rahmen von Kanthers "Aktion Sicherheitsnetz") die Polizeipräsenz auf der Straße zu verstärken, schon bei geringen Ordnungswidrigkeiten und kleineren Delikten frühzeitig und konsequent einzuschreiten - auch schon dann, wenn Betrunkene in der Stadt herumpöbeln ("Trinkgelage"...), wenn aggressiv gebettelt wird oder dort, wo Dreck (Zigarettenschachteln, Bierdosen, Hundekot...) und "Unordnung" im öffentlichen Raum produziert und "grob ungehörige Handlungen" begangen werden. Die "Bild-Zeitung" vom 11.11.97 titelte begeistert: "Hannover soll sicher werden - Minister: Fixer und Bettler einsperren... wenn sie Platzverweise nicht befolgen. Er räumt auf." In ihrem berüchtigten Stakkato referiert "Bild" die geplante "Strafliste", "damit die Bürger keine Angst mehr haben müssen": "Betrunkene werden aufgesammelt, in Ausnüchterungszellen gesperrt; Fixer, die an der Straße spritzen, werden mit Platzverweis bestraft. Das Drogen-Besteck (Spritzen) wird weggenommen. Im Wiederholungsfall droht Arrest - bis zu 4 Tage; Fliegende Händler werden überprüft. Kein Gewerbeschein - Anzeige, Ausländern droht Abschiebung; Bettler bekommen Platzverweise. Werden sie wieder erwischt - ab in die Zelle..."

Es handelt sich bei diesen "Null-Tolerenz"-Maßnahmen nach New Yorker Vorbild um die niedrigschwellige polizeiliche Bekämpfung der Symptome einer zunehmenden sozialen Verelendung in den Städten, um die polizeiliche Bekämpfung von kommunalen Ordnungsstörungen auf dem Wege der Ausgrenzung und Vertreibung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen und deren unliebsamen Mitgliedern. Vermehrte Polizeiübergriffe werden da nicht lange auf sich warten lassen. Es handelt sich um eine Strategie der gesellschaftlichen Spaltung in schützenswerte, anständige Konsumbürger auf der einen und störende Bürger minderen Rechts auf der anderen Seite. Es ist der (vergebliche) und mit einer weiteren Aushöhlung der Bürgerrechte verbundene Versuch, die "häßlichen" Auswirkungen der 2/3-Gesellschaft, einer verfehlten Sozial- und Jugendpolitik, von rigorosem Sozialstaatsabbau und sozialer Desintegration auf unterster kommunaler Ebene mit - in letzter Konsequenz - polizeistaatlichen Mitteln zu "bewältigen", zu verdrängen.

Das herrschende "Konzept" des permanenten Nachrüstens, des Verbietens, Ausgrenzens und Wegsperrens ist ein einfallsloses, ein hilfloses, ein verhängnisvolles Konzept, ein Armutszeugnis für Regierungen und Polizeiführungen. Statt Ausgrenzung und Drohgebärden ist eine Verbesserung der Lebensqualität und Lebensperspektiven für sozial Schwache und insbesondere für Jugendliche gefragt. In bestimmten Bereichen - wie in der Drogenpolitik - sind Entkriminalisierungen und - in politischen Konfliktfällen konsequent angewandte Deeskalationskonzepte vonnöten - und dazu gehört auch ein kritischer Dialog mit den betroffenen Szenen und Gruppen.

Dieses Land braucht strukturelle Veränderungen zu demokratischer Teilhabe
Was dieses Land dringend benötigt, sind tiefgreifende strukturelle Veränderungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft - in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr demokratischer Teilhabe. Doch die Zeichen der Zeit deuten in eine andere Richtung und zwar verstärkt seit der deutschen Einheit: Neben der Verkürzung von Verfahrensrechten und der Beschränkung von Rechtsmitteln im Straf- und Zivilverfahren werden insbesondere im Umwelt- und Naturschutzbereich Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger mit sog. Beschleunigungs- und Rechtsvereinfachungsgesetzen zurückgestutzt (zunächst erprobt in den neuen Bundesländern, dann auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt). Es geht dabei in erster Linie um den "(Wirtschafts-) Standort Deutschland", der durch Straffung und Vereinfachung von Verfahren gesichert werden soll: etwa mithilfe des "Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes (1991), des Planungsvereinfachungsgesetzes (1993), des "Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetzes" (1996), des "Gesetzes zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren" (1996) und des neuen, aufgeweichten Atomgesetzes. Doch regelmäßig geht diese Art von "Beschleunigung" und "Vereinfachung" auf Kosten demokratischer Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit. Der Preis: Ähnlich wie im Sozial- und Bürgerrechtsbereich werden mühsam errungene Umwelt- und Beiligungsstandards abgebaut.

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und rechtspolitischer Berater bündnisgrüner und PDS-Fraktionen auf Länder- und auf Bundesebene. Mitredakteuer der geheimdienstkritischen Zeitschrift "Geheim". Mitherausgeber der Zweiwochenzeitschrift "Ossietzky". Autor zahlreicher Bücher zu Themen der sog. Inneren Sicherheit; zuletzt:
- "Mythos Sicherheit - Der hilflose Schrei nach dem starken Staat", (Hg., Nomos), Baden-Baden 1995;
- "Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle?" (mit Oliver Neß, Campus), Frankfurt/M. - New York 1996;
- "Die vergessenen Justizopfer des Kalten Kriegs. Verdrängung im Westen - Abrechnung mit dem Osten?" (Aufbau), Berlin 1998.



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