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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschisten

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antifNACHRICHTEN an9805
Nummer 5 / Mai 1998


Internationales Symposium beim Europarat in Strasbourg:

Archiv in Arolsen der Forschung öffnen

von Reinhard Hildebrandt

In den Archiven von Arolsen (bei Kassel) lagern brisante Dokumente über den NS-Terror, die der Forschung und damit der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Es handelt sich dabei um ca. 50 Millionen Dokumente und Karteikarten, die mehr als 15 Millionen Menschen betreffen.

Praktisch geht es um das größte Archiv mit Akten über die NS-Konzentrations- und Arbeitslager, mit Dokumenten zu den KZs, den KZ-Häftlingen, den ausländischen Zwangsarbeitern und den infolge des Zweiten Weltkrieges vertriebenen Nicht-Deutschen. Das Archiv untersteht der Verwaltung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das vom Internationalen Suchdienst beauftragt wurde, diese Dokumente aufzubewahren, damit diese "den zuständigen interessierten Personen und Behörden frei zugänglich bleiben". Tatsächlich kennen nur wenige Leute das Archiv, denn Forscher und Historiker sind etwa seit Ende der siebziger Jahre von seiner Auswertung ausgeschlossen. Dieser Zustand ist untragbar. Um diesen Mißstand zu beseitigen, hat der französische Verband der Deportierten, Internierten, Patrioten und Widerstandskämpfer (FNDIRP) am 5. und 6. Februar 1998 in Zusammenarbeit mit der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) ein internationales Symposium abgehalten, in den Räumen des Europarates in Strasbourg und unter Beteiligung offizieller Repräsentanten. Für die VVN-BdA nahmen u. a. Ulrich Schneider, Rosel Vadehra-Jonas, Luitwin Bies und Reinhard Hildebrandt teil.

Die FIR umfaßt gegenwärtig 83 Mitgliedsverbände in fast allen europäischen Staaten, Israel und auf dem amerikanischen Kontinent. Der Charakter der Mitgliedsverbände ist sehr unterschiedlich. Große traditionsreiche Verbände in Frankreich, Italien und Deutschland stehen neben kleinen Organisationen, wie in Griechenland. Das hohe moralische Gewicht der FIR wird durch ihre Anerkennung als NGO (nichtstaatliche Organisation) in der OSZE und beim Europaparlament deutlich.

Die Archive öffnen!

Das Symposium in Strasbourg stand unter dem Thema: "Die Archive der Konzentrationslager und des Völkermordes, insbesondere das ITS-Archiv in Arolsen bewahren und den Historikern öffnen". Der ITS (International Tracing Service) ist der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes. Dem Symposium, das in Abstimmung mit dem Europarat durchgeführt wurde, gingen verschiedene Initiativen und Aktivitäten voraus. Bereits im September 1990 verlangte die FIR in einem Dokument, dass das Archiv von Arolsen und das Dokumentationszentrum von West-Berlin für die Historiker geöffnet werde. Im Juni 1991 nahm die FIR bei dem von der KSZE in Krakau abgehaltenen Symposium über das kulturelle Erbe Europas teil und trug dazu bei, dass in dem von den Teilnehmerstaaten verabschiedeten Dokument ein Passus aufgenommen wurde, in dem es heißt: "Die Teilnehmerstaaten werden sich um die Bewahrung und den Schutz der Baudenkmale und Gedenkstätten, einschließlich insbesondere von Vernichtungslagern, sowie der dazugehörigen Archive bemühen, die ihrerseits Zeugnisse der tragischen Ereignisse ihrer gemeinsamen Vergangenheit sind". Am 11. Februar 1993 nahm das Europaparlament praktisch einstimmig eine Resolution "über den europäischen und internationalen Schutz der Baudenkmale und KZ-Gedenkstätten" an. In diesem Text heißt es, dass es von besonderer Wichtigkeit sei, alle Archive der NS-Konzentrationslager, "besonders das von Arolsen" zu bewahren und den Historikern zu öffnen. Die FNDIRP verabschiedete im Juni 1995 anläßlich ihrer Generalversammlung zum fünfzigjährigen Bestehen einen Aufruf mit dem Ziel, mit dem ITS-Archiv in Arolsen die in ihm erhaltene Erinnerung an die Deportation der historischen Forschung zu öffnen. Der im Juni 1996 in Wien abgehaltene XII. Kongress der FIR verabschiedete eine Entschließung "Für die Öffnung des Archivs von Arolsen". Der Generalsekretär der FIR, Oskar Wiesflecker, erklärte auf dem Symposium in Strasbourg in seiner Begrüßungsansprache u.a.: "Die Archive von Arolsen enthalten eine der wichtigsten Sammlungen über den KZ-Alltag im Dritten Reich und den von Nazideutschland überfallenen und okkupierten Länder. Diese Dokumnete sind von unermeßlichem historischen Wert und unerläßliche Zeugnisse für die Greuel dieser Epoche. Sie sind ein Faktor unserer gemeinsamen europäischen Geschichte und somit wichtige Beiträge zur Erforschung der Vergangenheit, deren Kenntnis unabdingbar für die Gestaltung der Zukunft ist. Denn, wer das Vergangene vergisst, ist verurteilt es noch einmal zu erleben. Und das wollen wir, die durch die Hölle dieser NS-Vergangenheit gegangen sind, unseren Kindern und Kindeskindern ersparen. Wir sind moralisch dazu verpflichtet, alles in unseren Kräften stehende zu tun, dass eine Wiederholung dessen, was in unserer Epoche geschah, unmöglich gemacht wird. Dazu bedarf es nicht nur unserer Erfahrung, sondern auch deren geschichtlicher Untermauerung. Ein solches historisches Fundament bilden die in den Archiven von Arolsen lagernden Dokumente."

Humanitäres Mandat

Das Problem der Öffnung der Archive von Arolsen ist vielschichtig. Zum einen ist der Fortbestand des ITS-Archivs auch für die Zukunft sicherzustellen, seine Akten sind in unveränderter Form zu erhalten und der Forschung zu öffnen. Zum anderen werden die rechtliche und finanzielle Basis des ITS-Archivs zu untersuchen sein, denn hier werden Änderungen notwendig sein. Die Hauptaufgabe des ITS ist es heute, NS-Verfolgten / Zwangsarbeitern anerkannte, amtliche Bestätigungen zur Anrechnung von Beschäftigungs- und Versicherungszeiten auszustellen. Mit dieser humanitären Aufgabe sind gegenwärtig rund 400 Personen beschäftigt, die mit etwa 250 000 Anfragen allein im Jahr 1997 überlastet sind. Das humanitäre Mandat darf nicht eingeschränkt werden. Im Plenum und in vier Arbeitsgruppen wurden beim Symposium in Strasbourg diese Themenbereiche untersucht und diskutiert. Ulrich Schneider, Bundessprecher der VVN-BdA leitete die Arbeitsgruppe 2, die den juristischen Status des ITS-Archives von Arolsen untersuchte.

Die Finanzierung der Einrichtung von Arolsen ist nach einer Festlegung der Pariser Verträge bis heute ausschließlich Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland. Sie verpflichtete sich hier dazu, "die Fortführung der Arbeiten zu gewährleisten, die (seinerzeit) vom Internationalen Suchdienst durchgeführt" wurden. 1995 waren rund 21,8 Millionen Mark für die Finanzierung der Suchdienstarbeit vorgesehen. Die Finanzierung durch die BRD wurde von den Alliierten als eine Form von Reparation verstanden.

1955 wurden die Leitung und Verwaltung des ITS dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Genf übertragen. Der Arbeitsbereich des ITS in Arolsen wird festgelegt durch einen Internationalen Ausschuss, in dem zehn Mitgliedsstaaten vertreten sind, Belgien, die BRD, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Israel, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die USA, nicht jedoch Polen und die UDSSR-Nachfolgestaaten. Der Internationale Ausschuss tagt in der Regel einmal jährlich.

Ein freudiges Ereignis in der Landesgeschäftsstelle: VertreterInnen des Hauptstaatsarchives Stuttgart übergaben das lang ersehnte Findbuch zu den Archivbeständen zur Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten in Bad.-Württemb. In mehr als einjähriger Arbeit haben Heike Talkenberger und Malte Bischoff als Förderungsmaßnahme für unsere historisch bedeutsamen Unterlagen die Akten sortiert und mit dem neuen Findbuch erschlossen.

Internationales Interesse

Das Symposium in Strasbourg hatte eine große Bedeutung für die Zukunft des Archives von Arolsen. Unter anderem waren auch Vertreter der im Zusammenhang des ITS entscheidenden Einrichtungen anwesend, Herr Biedermann, der ITS-Direktor in Arolsen und Herr Yves Sandoz vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Die Leitung hatte Maurice Voutey, Mitglied des Präsidiums der FNDIRP. Unter anderen nahmen teil Jean Mialet vom Internationalen Komitee der Lagergemeinschaften, Brewster Chamberlin, Direktor des Holocaust-Museums in den USA, Dr. Günter Morsch, Direktor der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, Yannis Thanassekos, Direktor der Auschwitz-Stiftung in Brüssel, und zahlreiche Historiker und Wissenschaftler aus Luxemburg, Italien, Jugoslawien, Polen, Ungarn, Rußland und Deutschland und anderen Ländern.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums waren sich in der Forderung einig, ohne das humanitäre Mandat des ITS in Arolsen zu behindern, den Zugang zu den Archiven für die historische Forschung zu öffnen, sofort, solange noch die Überlebenden der Konzentrationslager als Zeitzeugen zur Verfügung stehen. Das Symposium in Strasbourg war ein wichtiger Beitrag am richtigen Ort zur richtigen Zeit, diese Forderung beschleunigt in die Praxis umzusetzen.

Reinhard Hildebrandt



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