VVN-Logo 15.01.1998
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschisten

VVN-BdA Baden-Württemberg
Telebus-Logo

antifNACHRICHTEN an9801
Nummer 1 / Januar 1998


Schleichende Preisgabe von Rechtstaatsprinzipien

Sicherheitspolitik und Demokratie

von Rainer Wolf

Diskussionen über die Notwendigkeit weiterer Programme zur Erhöhung der Inneren Sicherheit sind Dauerbrenner. Die Gefahr der šberhitzung ist allein schon deshalb besonders groá. Sie wird durch die öffentliche Dramatisierung von Bedrohungen, penetrante Erscheinung, insbesondere in Wahlkampfzeiten, enorm gesteigert. Eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gefährdungen wird dadurch und mangels sachlicher Information erschwert.

Bedroht erscheint weniger der Einzelne als vielmehr das Gemeinwesen schlechthin. Rechtsstaat und Demokratie wähnt man in Gefahr durch ausufernde und überschäumende Kriminalität. Kriminalitätsbekämpfung wird zugleich Staats- und Verfassungsschutz. Nicht in den Blick gerät die durch diese Art der Sicherheitspolitik entstehende Verunsicherung, die Gefahr für Freiheitsrechte und die schleichende Preisgabe von tragenden Rechtstaatsprinzipien. Niemand fragt, ob der Einsatz repressiver Mittel wie Straf- und Polizeigewalt überhaupt taugt zur Bekämpfung der tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Probleme. Freiheit stirbt mit Sicherheit. Diese plakative Warnung der Bürgerrechtsbewegung aus den 80er Jahren hat an Berechtigung und Aktualität nichts eingebüßt. Sicherheitspolitik in einer zivilen Gesellschaft muß daher im Auge behalten:

1. Innere Sicherheit ist eine gesamt politische Aufgabe

Sicherheit der Bürger ist eine Grundbedingung für den inneren und äußeren Frieden. Sie zu verwirklichen ist Aufgabe für und Herausforderung an alle Bereiche der Politik.

Hierzulande behalten Programme zur Inneren Sicherheit jedoch fast ausschließlich Vorschläge zur Reform des Kriminal- und Polizeirechts. Sicherheitspolitik sucht ihr Heil vorwiegend in Strafverschärfungen, Ausweitung der ohnehin nicht mehr überschaubaren Straftatsbestände und Ausdehnung oder Erleichterung bei den sicherheitsbehördlichen Eingriffsbefugnissen.

Die sofortige Delegation der Konfliktbewältigung an die polizeilichen Sicherheitsinstanzen ist Ausdruck evidenten Politikversagens. Sie gaukelt der beruhigten Bevölkerung vor, das Notwendige und Mögliche sei veranlaßt. Polizeiliche und strafrechtliche Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte und ihrer Folgen ist Symptom- und regelmäßig keine Ursachenbehandlung.

2. Strafrecht als ultima ratio

Weil der Einsatz von Strafe grundsätzlich schwerwiegende Freiheitsbeeinträchtigungen beim davon Betroffenen - und das sind beileibe nicht nur die tatsächlich Schuldigen! - mit sich bringt, ist das gesamte Strafrecht vom ultimaratio-Prinzip beherrscht.

Erst wenn andere, mildere Einwirkungen aus dem gesamten Spektrum der Sachpolitik nicht ausreichen, um Regel- und Rechtsgutverletzungen zu verhüten, ist die Anwendung von Strafrecht, das immer selbst Gewalt darstellt, zu rechtfertigen.

Strafrecht als letztes Mittel bedeutet auch, der Ursachenbekämpfung durch Sachpolitik den Vorrang einzuräumen.

3. Die Berechtigung der Angst vor der Staatsgewalt

Die Angst vor krimineller Beeinträchtigung an Leib und Haben muß Ernst genommen werden. Durch Strafverschärfungen und neugeschaffene Eingriffsbefugnisse wird man ihrer aber nicht Herr, zumal individuelle und soziale Sicherheit mehr bedeutet als nur Schutz vor kriminellen Machenschaften. Ernst zu nehmen ist aber auch die Angst vor einem übermächtigen und allgegenwärtigen Staat. Die Grundrechte haben sich aus Mißtrauen gegenüber der Staatsgewalt entwickelt. Es ist bedrückend, daß gerade in Deutschland, das aller Welt die Umwandlung einer rechtstaatlichen Ordnung in ein totalitäres Unrechtssystem nicht durch Abschaffung des Rechts, sondern durch dessen Verformung und Perversion vorgeführt hat, die Angst hiervor der Lächerlichkeit ausgesetzt wird und diejenigen, die diese Sorge artikulieren, als die eigentliche und größere Gefahr für Rechtsstaat und Demokratie diffamiert werden.

4. Strafrecht ist ein zweischneidiges Schwert

Befugnisse zum Einsatz von Strafe stellen keine umfassende Ermächtigung dar, auf denjenigen zuzugreifen, der in Verdacht gerät, fremde Rechtsgüter und Interessen beeinträchtigt zu haben oder zu gefährden. Strafrecht in einem i Verständnis hat die Befugnis zum Eingriff immer gekoppelt mit einer strengen, justizförmigen Bindung dieses Eingriffs nach Anlaß, Zielrichtung, Dauer und Intensität. Immer mehr Strafrecht müßte demgemäß auch bedeuten, einen Ausbau der Sicherungen gegenüber der Strafgewalt des Staates. Das strikte Gegenteil ist der Fall, wie die Beschneidung der Informations und Mitwirkungsrechte durch den Umbau des beschleunigten Verfahrens, die Beschränkung des Beweisantragsrechts, die Verkürzung der Rechtsmittel und die Einführung neuer Festnahmemöglichkeit durch das Institut der Hauptverhandlungssicherungshaft, aber auch die Ermächtigung des Bundesnachrichtendienstes zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs auf allgemeine Kriminalitätsgefahren und die Ausweitung heimlicher Ermittlungsmethoden ohne justizförmige Kontrolle erweisen.

Die Sicherung der Freiheit vor dem strafenden Staat wird um so wichtiger, je leichter es diesem gemacht wird, auch auf Unverdächtigte und Unbeteiligte zugreifen zu können. Die bisherigen Eingriffschwellen der konkreten Gefahr und des anfänglichen Strafverdachts sind weitgehend aufgelockert oder gar beseitigt. Die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung, die auch den Anspruch des Bürgers beinhaltet, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, wurde aufgeweicht. Wohlverhalten schützt vor polizeilicher Aufmerksamkeit und Inanspruchnahme nicht mehr. Kontrolliert, ausspioniert und registriert werden dürfen nicht nur Risikopersonen, sondern auch deren soziales Umfeld: der Ehepartner und Lebensgefährte, Verwandte und Bekannte, der Besuch, der Arbeitskollege und der Geschäftspartner, der Anwalt, der Lehrer, der Arzt, der Priester.

5. Kriminalitätskontrolle muß sich an der Verfassung ausrichten und nicht umgekehrt

Beängstigend ist nicht nur die Hektik, mit der freiheitssichernde Verfahrensgesetze zu optimierten Instrumentarien der umfassenden Gefahrenabwehr- und Verbrechensbekämpfung umgestaltet werden. Erschrocken macht vielmehr die Erkenntnis, daß das allein erfolgversprechende Konzept hierzu im Abbau von Grund und Menschenrechten zu bestehen scheint.

Politik der Inneren Sicherheit macht vor der Verfassung nicht halt. Was im Wege steht, wird demontiert. Kriminalitätsbekämpfung wird - wie andere Politikbereiche auch - nicht mehr an der Verfassung ausgerichtet, sondern umgekehrt die Verfassung den jeweiligen Erfordernissen der gerade opportun erscheinenden Strategie angepaßt.

Mit den neugeschaffenen Polizeigesetzen, die Eingriffe ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr zulassen, sind rassistisch motivierte und diskriminierende Einzelmaßnahmen möglich geworden. Personenkontrollen und Durchsuchungen, die nur mit der Hautfarbe oder des ausländischen Aussehens begründbar sind, stellen polizeilichen Alltag in der Großstadt dar, in der notstandsähnliche Sperrbezirke eingerichtet werden, aus denen unerwünschte Personen mit polizeilichen Platzverweisen vertrieben und monatelange Aufenthaltsverbote ohne ausreichende gesetzliche Ermächtigung verhängt werden, zu deren Durchsetzung Richter mehrtägige, bis zu zwei Wochen andauernde Freiheitsentziehungen anordnen, ganz so, als gäbe es ein Grundrecht auf Freizügigkeit nicht.

Neben dem öffentlichen Lebensraum wird immer mehr die unantastbare Intimsphäre der Wohnung und zwischenmenschlicher Beziehungen der unberechenbareren, allgegenwärtigen und heimlichen Beobachtung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden geöffnet. Bei der Zulassung der heimlichen Ausspähung des Wohnbereiches durch verdeckte Ermittler und des unmerklichen Anbringens technischer Mittel wie Wanzen und Richtmikrophone wird sich herausstellen, ob die Anerkennung eines unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist, ein bloßes Lippenbekenntnis oder verfassungsrechtliches Bollwerk ist.

6. Legalisierung gesetzloser Praktiken

Die öffentliche Debatte über Legitimität und Legalisierung weiterer Kriminalitätsbekämpfungsmethoden und polizeilicher Eingriffsbefugnisse hinkt der Praxis der Sicherheitsbehörden regelmäßig hinterher. Sie verkommt zur legislativen Absegnung exekutiver Machtausweitung. So war es bei der Telefonüberwachung und beim Lauschangriff. Der Einsatz verdeckter Ermittler wurde über ein Jahrzehnt hinweg unter Berufung auf punktuelle Zulassung durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht gerechtfertigt, die Regelungen durch den allein dazu berufenen Gesetzgeber erschien unentbehrlich. Der demokratischrechsstaatliche Grundanspruch, wonach Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger nur aufgrund eines Gesetzes vorgenommen werden dürfen, wurde und wird in weiten Bereichen der Inneren Sicherheit mißachtet.

Rainer Wolf
ist Richter am Amtsgericht Stuttgart und hielt diesen Vortrag auf der Antifaschistischen Sozialkonferenz am 29. 11. 97 im Stuttgarter Gewerkschaftshaus


antifaNACHRICHTEN werden herausgegeben von der VVN/BdA Baden-Württemberg.
V.i.S.d.P.: Dieter Lachenmayer.

VVN-LOGO VVN-BdA Baden-Württemberg
http://www.vvn.telebus.de
Böblinger Strasse 195
D-70199 Stuttgart

Tel. 0711 / 60 32 37 Fax 0711 / 60 07 18
e-mail: vvnbda.bawue@planet-interkom.de

© 1998 J. Kaiser