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antifNACHRICHTEN an200110
Nummer 4 / Oktober 2001



Heldenfeier für Hitler-Stellvertreter:

Verbreitung von NS-Propaganda mit höchstrichterlicher Genehmigung

von Reinhard Hildebrandt

"Ist das nun endgültig das Ende des Aufstandes der Anständigen ?"fragt der Bundessprecher der VVN-BdA Ulrich Sander in einer Mitteilung an die Medien und fährt fort: "In Nordbayern dürfen erstmals seit zehn Jahren die Nazis zum Andenken an ihren Führer Rudolf Heß aufmarschieren und für den Nationalsozialismus werben. Das Bundesverfassungsgericht machte es mit seinen Urteilen möglich, in denen verfassungswidrige faschistische Propaganda zur 'missliebigen Meinung' verniedlicht wird."

Erstmals seit 10 Jahren fand am 18. August in Wunsiedel wieder eine Demonstration anlässlich des Todestages des Nazikriegsverbrechers und Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß statt. Knapp 1000 Nazis aus dem ganzen Bundesgebiet beteiligten sich an dem vom Neonazi Jürgen Rieger angemeldeten und vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof München am 17. August genehmigtem Aufmarsch.

Stelldichein der Nazi-Szene
Die Führungsriege der "Freien Kameradschaften" war fast vollständig vertreten, Christian Worch, Thomas "Steiner" Wulf, Peter Borchert, Sascha Bothe, Thorsten Bärthel und Christian Malcoci. Neben den "Skinheads Westfalen", "Odins Legion" aus Zittau, einigen aus der "Blood & Honour"-Führungsriege, den Kameradschaften Lichtenfels, Schwandorf und Germania (Berlin), Oliver Schweigert (Anti-Antifa Berlin) waren allerdings nur wenige NPD-Hauptaktivisten vertreten. Worüber sich Friedhelm Busse, der ehemalige Chef der inzwischen verbotenen FAP ärgerte; er will NPD-Chef Udo Voigt den Marsch blasen. Alles was im militanten Nazispektrum "Rang und Namen" hat, marschierte an diesem Tag auf. Das bereitete den Organisatoren Probleme, denn Jürgen Rieger hatte der angetretenen Ordnertruppe verkündet, dass keiner von ihnen vorbestraft sein dürfe. Sofort lichteten sich die Reihen zusehends. Auch der kürzlich aus dem Knast entlassene "Blood & Honour"-Aktivist Christian Hehl aus Ludwigshafen musste seine Ordnerbinde wieder abstreifen. Eifrig suchten die Neonnazis nach unbelasteten Saubermännern in den eigenen Reihen. Ein schwieriges Unterfangen, das den Aufmarsch verzögerte. Rieger stöhnte: "Versammlungsleiter darf ich sein, aber leider nicht Ordner".

Rechtsbeugung im Gerichtssaal
Das Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) ist ein Skandal! Nach über 10 Jahren hoben die Richter des 24. Senats das alljährliche Verbot des "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" in Wunsiedel auf. Damit wurde mit der seit zehn Jahrenbewährten Praxis gebrochen, das Heß-Grab auf dem Friedhof in Wunsiedel nicht zur Wallfahrtsstätte für Neonazis werden zu lassen. Zwar erkannten die Münchner Richter im beantragten Aufmarsch "nationalsozialistisches Gedankengut", aber "konkrete Tatsachen für eine Gefahrenprognose mit dem Ergebnis, dass es zu Straftaten speziell im Bereich politischer Auseinandersetzungen kommen" würde, sahen sie nicht. Dass der Aufmarsch selbst allerdings eine Straftat sein könnte, verkannten sie. Eine Rechtsbeugung im Amt. Denn Nationalsozialismus ist, getreu des Artikels 139 Grundgesetz keine Meinung, sondern ein Verbrechen.
Ein Blick zurück in die Jahre 1988 bis 1990 hätte genügt, zu erkennen, dass Wunsiedel ein Kristallisationspunkt der gesamten militanten Rechten ist, dass die Alt- und Neonazis beharrlich versuchen, den kleinen Ort, wo der Hitler-Stellvertreter Heß begraben liegt, zu einem Wallfahrtsort aller Neofaschisten zu entwickeln. Damals wie heute war die gleiche Fascho-Prominenz anwesend wie z.B. Worch (damalsVorstandsmitglied der "Nationalen Liste"), Busse (damals Bundesvorsitzender der FAP), T. "Steiner" Wulf, Schweigert und viele andere, dazu Michael Kühnen (verstorben), Gottfried Küssel aus Österreich (zur Zeit in Haft), Bert Eriksson aus Belgien, Gründer und Führer des "Vlaamse Militanten Orde" (VMO) - alles "positives, kerndeutsches Menschenmaterial", so Christian Worch auf der Abschlusskundgebung 1989 zu den versammelten Faschos. Dabei dient ihnen die Person Heß letztendlich als Vehikel um eine Rehabilitierung des Nazismus als gesellschaftliche Ideologie zu betreiben und Geschichte umzuschreiben.

Hess - kein Märtyrer, sondern Verbrecher
"JN: Rudolf Heß - Das war Mord", so war 2001 auf einem Transparent der NPD-Jugend zu lesen, die einträchtig zusammen mit "Freien Kameradschaften" demonstrierte. "Er musste sterben, weil er ein ECHTER DEUTSCHER war", so auf einem Nazi-Flugblatt zum Heß-Gedenkmarsch 1991. Bekanntlich starb Rudolf Heß am 17.8.1987 als 93-jähriger durch Selbstmord im Gefängnis von Berlin-Spandau, nach 46 Jahren Gefangenschaft und Haft. Als "Märtyrer für Deutschland" wird er von den Nazis zum Idol hochstilisiert. "Botschafter des Friedens", der durch seine Fallschirmlandung in England "sein Leben auf's Spiel setzte, um in einem kühnen Alleingang den Frieden zu retten", so sein Sohn Wolf Rüdiger Heß in einem Vortrag. "Idol Heß - das ist ein Produkt der Unwissenheit und nicht so selten auch der verhärteten Verweigerung gegenüber den Tatsachen, die sich mit seinem Wirken in der deutsch-faschistischen Bewegung (1922 bis 1932) und deren Untaten an der Macht (1933 bis 1941) verbinden", schreibt Kurt Pätzold in seiner Heß-Biographie.Tatsachen sind: Heß hat den Faschismus und die Strömungen um Hitler von Anfang an mit aufgebaut und die Weimarer Republik bekämpft. Er war schon beim Hitlerputsch in München 1923 dabei und wurde zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt. In Landsberg diktierte ihm Hitler "Mein Kampf" und akzeptierte manchen redaktionellen Eingriff von Heß, der fortan sein "Privatsekretär" war.Nach der Machtübertragung an die Nazis wurde er "Stellvertreter des Führers der NSDAP", später außerdem "Reichsminister ohne Geschäftsbereich". Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess nannte der amerikanische Jurist Jackson den Mann auf Platz zwei der Anklagebank den "Maschinisten des Parteiapparats". Der Alltag des "Stellvertreters" war der eines Schreibtischtäters. An ihm ging kein Weg vorbei wenn es sich um Gesetze, Verfügungen, Verordnungen, Weisungen, Instruktionen usw. handelte. Schon bevor die Nürnberger Gesetze beschlossen waren, hatte sich Heß in den Reihen der NSDAP mit Nachdruck für die Durchsetzung der Politik eingesetzt, welche die Juden in Deutschland ächtete. Er war maßgeblich beteiligt an der Vorbereitung des Vernichtungskrieges der Wehrmacht und der Ausrottung von Millionen Juden in den Konzentrationslagern. Wegen Planung eines Angriffskrieges und Verschwörung gegen den Weltfrieden wurde er in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt. Wenige Tage nach dem Englandflug von Heß überfiel Hitlerdeutschland die Sowjetunion. Einige Historiker sehen in seinem Flug den vergeblichen Versuch der Nazis, mit Großbritannien Frieden zu schließen, um damit gänzlich freie Hand für den Krieg gegen die UdSSR zu haben,England als Verbündeten für den antisowjetischen Krieg zu gewinnen - das gehört wahrscheinlich in den Bereich der Legende. Tatsächlich gab Heß in Großbritannien eine authentische Vorstellung des Großmachtdenkens der deutsch-faschistischen Führungsgruppe. Im Zentrum von deren Begierden stand unverrückbar das Ziel "Weltmacht Deutschland" Er hatte vorgeschlagen, dass Großbritannien Deutschland in Europa freie Hand lasse für ein Europa unter dem Hakenkreuz. Den Briten drohte er bei Ablehnung mit der weiteren Barbarisierung des Luftkriegs, der bisher nur ein Vorspiel gewesen sei, und mit der Aushungerung der Bevölkerung. Eine Mischung aus Größenwahn, Fehlkalkulation und wirren Wünschen steht hinter den "Geheimnissen" des "Englandflugs". Dem Nichtwissen wie Nichtwissen-Wollen der Neofaschisten stellen wir die historische Wahrheit gegenüber:
Rudolf Heß war etwa zwanzig Jahre der Gefolgsmann Hitlers, zuerst als ein Vorkämpfer gegen die Republik und dann als Installateur einer blutigen Diktatur und als einer der Wegbereiter des Zweiten Weltkrieges. Gerichtlich genehmigte Aufmärsche von Neofaschisten zur Ehrung von Heß sind ein Skandal und zerstören den antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes.

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Literaturhinweise zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema:
- Dokumentation "Wunsiedel: Kristallisationspunkt der gesamten faschistischen Bewegung" Autonome Antifa Kiel, 1992.
- antifaschistische nachrichten Nr. 18 vom 30.8.2001 "Nach zehn Jahren Verbot Heß-Gedenken wieder erlaubt"
- Der Rechte Rand Nr. 72 (Sept/Okt 2001) "Rechte Saubermänner gesucht"
- junge welt 20.8.2001 "Freie Bahn für braune Horden"
- Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker: Rudolf Heß - Der Mann an Hitlers Seite, Leipzig 1999. 544 Seiten. Die Autoren zerschlagen weitverbreitete Klischees und korrigieren das bisherige Heß-Bild in vielfacher Weise. Das Buch ist bei Che & Chandler, Bonn (Tel. 0228/63 23 66) für DM 29,80 (statt DM 58,00) erhältlich.

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