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antifNACHRICHTEN an200107
Nummer 3 / Juli 2001



Big Brother kennt kein Grundgesetz:

Der Überwachungsstaat rüstet auf

von Elke Günter

"Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldeheimnis sind unverletzlich" lautet der Grundgesetzartikel 10 (1). Am 11. Mai hat die ganz große Koalition aus SPD-Grüne-CDU/CSU einer Gesetzesnovelle zur Telefonüberwachung zugestimmt, die dieses ohnhin durchlöcherte Grundrecht vollends wie Schweizer Käse aussehen läßt. Mit der Novelle des G-10-Gesetzes wird der nahezu schrankenlosen Überwachung und Ausspionierung der Bürgerinnen und Bürger durch BND und Verfassungsschutz Tür und Tor geöffnet.

Nicht einmal mehr ein begründeter Verdacht auf eine Straftat ist jetzt erforderlich, um die staatlichen Lauscher auf den Plan zu rufen. Der Bundesnachrichtendienst darf künftig auch außerhalb der deutschen Staatsgrenzen Telefonleitungen anzapfen, "Verfassungsschützer" Erlauschtes an Polizeibehörden weiterleiten. 1994 hatte die Bundestagsmehrheit aus CDU/CSU/FDP gegen den Protest der Oppositionsparteien eine erste Stufe des "Großen Lauschangriffs", das sogenannte G-10-Gesetz, beschlossen, das vor allem den Bundesnachrichtendienst (BND) mit weitreichenden Überwachungskompetenzen ausstattete. Angeblich um der "organisierten Kriminaltät" Einhalt zu gebieten, erhielt der BND damals das Recht, Auslandsgespräche über Satellit und Richtfunk nach bestimmten Suchbegriffen zu durchforsten. 7000 Suchbegriffe waren 1998/1999 in den Wortbanken der BND-Computeranlagen gespeichert, nach denen der internationale Fernmeldeverkehr durchforstet wurde. So gewonnene strafrechtlich relevanten Erkenntnisse durften - ohne den Betroffenen zu informieren - an Polizei und Staatsanwaltschaft weitergegeben werden. Dies stellt einen klaren Verstoß gegen die im Grundgesetz festgelegte Trennung von Geheimdiensten und Polizei dar.

BVG-Urteil bewirkt das Gegenteil
Zur Freude von Bürgerrechtlern hatte das Bundesverfassungsgericht 1999 dieses Gesetz für in Teilen verfassungswidrig erklärt und eine Nachbesserung veranlaßt. Die rot-grüne Regierung hat jetzt ausgerechnet diese Auflage des Bundesverfassungsgerichts genutzt, um die "Arbeitsbedingungen" der Schlapphüte weiter zu verbessern. Statt strengerer Auflagen darf jetzt nahezu uneingeschränkt abgehört und ausspioniert werden. Nicht nur der technischen Entwicklung wurde Rechnung getragen: So dürfen nunmehr über Glasfaserkabel geführte Telefongespräche - heute rund 80% aller Gespräche - abgehört werden. Auch das Spektrum der Suchbegriffe wurde erweitert. Die von Abhörmaßnahmen betroffenen Bürger sind praktisch rechtlos. Denn dagegen klagen können Betroffene nur dann, wenn sie von offiziellen Stellen auch über die Abhörmaßnahme informiert werden. Eine Informationspflicht freilich gibt es nicht. Ob und wann informiert wird, liegt also ganz im Ermessen der Behörde.

Verdreifachung der Abhörwut
Ordneten Justizbehörden 1995 noch 4674mal Telefonüberwachung an, wurden 1999 bereits 12651 Telefongespräche abhört. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Terroristenhysterie Anfang der 70er Jahre hatte es insgesamt 104 Telefonüberwachungen gegeben. Dank der G-10-Gesetzesnovelle sollen die "Abhörkapazitäten" des Bundesnachrichtendienstes auf 100000 Gespräche, Faxe und E-Mails erhöht werden. Damit nimmt die Bundesrepublik auch im internationalen Vergleich eine Spitzenposition ein. Grenzen setzen der geheimdienstlichen Datensammelwut zukünftig keine Gesetze, sondern allenfalls die dafür bereitstehenden Haushaltsmittel.

Ein Grundrecht auf den Kopf gestellt!
Kritikern der Gesetzesänderung hielt die Bundesregierung entgegen, die Novelle beinhalte auch eine stärkere Kontrollfunktion durch das Parlament. Wie solche parlamentarische "Kontrolle" im Ernstfall aussieht, durfte jüngst die innenpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion Ulla Jelpke erfahren, als sie Näheres über die Entwicklung der Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis innerhalb der letzten zehn Jahre erfahren wollte. Die wie groteskes Theater anmutende Nicht-Antwort der Bundesregierung lautete: Eingriffe von Polizei und Geheimdiensten in das Brief-, Post-, und Fernmeldegeheimnis seien "geheimhaltungsbedürftig". Auch Bundestagspräsident Thierse, bei dem sich Ulla Jelpke beschwert hatte, beschied die Abgeordnete, die Bundesregierung habe keineswegs gegen die Antwortwortverpflichtung verstoßen. Vielmehr sei die Regierung berechtigt, aus "zwingenden Geheimhaltungsgründen Fragen, insbesondere zu Aspekten geheimdienstlicher Tätigkeit im Bereich der Brief- und Fernmeldeüberwachung zurückhaltend zu beantworten". Äußerste "Zurückhaltung" auferlegt sich auch die baden-württembergische Landesregierung in solchen Fällen. Auf eine entsprechende Anfrage des Datenschutzbeauftragten Werner Schneider teilte das dafür zuständige Innenministerium mit: Leider erlaube das Post- und Fernmeldegeheimnis keine Auskunft über den Ablauf von Abhöraktionen...

Lauschen ohne Schranken
Daß nunmehr auch Neofaschismustypische Straftaten wie Volksverhetzung Gegenstand geheimdienstlichen Aushorchung sein sollen, es also mal "die Richtigen" trifft, darf für DemokratInnen kein Anlaß zur Beruhigung sein. Wer demokratische Rechte unter dem angeblichen Vorzeichen Nazis zu bekämpfen aushebelt, meint nicht die Nazis, sondern deren Gegner. Schon bei Verdachtsmomenten gegen Einzelpersonen oder lose Gruppen z.B. einen "gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr" oder "Störung öffentlicher Betriebe" zu planen dürfen die Geheimdienste mithören. Damit gemeint sind Atomkraft- und Castorgegner. Vor der aktuellen Gesetzesänderung waren dafür immerhin noch sogenannte terorristische Bandenstrukturen Voraussetzung. Die einzige Einschränkung für Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis ist, daß sich Straftaten gegen "die freiheitlich demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit eines Landes richten" müssen. Eine Einschränkung, die im Ernstfall keine ist. Zeigt doch bereits ein Blick in den alljährlich erscheindenden "Verfassungsschutz"bericht, was und wer Geheimdienstlern "verfassungsfeindlich", also irgendwie bedrohlich für die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" schwant.

Schilys Gewalttäterdatei
Im Bundesinnenministerium wird längst auch an einer "Zentraldatei für linke Gewalttäter" gebastelt. Dabei geht es noch nicht einmal um eine irgendwie geartete "Ausgeglichenheit" im Sinne des bekannten Strickmusters eine rechts, eine links. Von Ausgeglichenheit kann ohnehin keine Rede sein. Denn gegen Linke wird noch immer der berüchtigte Paragraph 129a "Verdacht auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" angewandt. Erst Anfang des Jahres wurden Verfahren nach 129a gegen eine Passauer Antifa-Gruppe nach monatelangen Repressionen und Einschüchterungsversuchen eingestellt. Bei der "Zentraldatei für linke Gewalttäter" geht es noch nicht einmal um "Gewalttaten im engerem Sinn". In der Links-Datei "sollen Erkenntnisse aus eingeleiteten und abgeschlossenen Ermittlungverfahren sowie "rechtskräftige Verurteilungen erfaßt werden". Um bei den "üblichen Verdächtigen" zu landen, ist es also völlig egal, ob Ermittlungsverfahren eingestellt oder vom Richter abgewiesen wurden. Wer bei einer Demo nicht zuschaut, wie Freund oder Freundin weggeschleppt werden, wer also "Gefangene befreit" oder "Widerstand gegen Vollstrekkungsbeamte" leistet, ist gespeichert. Was Verkehrsgefährdung, Land- oder Hausfriedensbruch ist, bestimmen Einsatzleiter nach Gutdünken. Die Teilnahme an der alljährlichen Behinderung bei der Anreise von IG-Farben Aktionären, oder auch an einer friedlichen symbolischen Blockadeaktion - wie z.B. die Osteraktionen der Friedensbewegung vor dem EUCOM - kann geradewegs in Schilys "Zentraldatei für linke Gewalttäter" führen. Gespeichert werden kann darin jeder, der der Polizei bei einer "politisch motivierten Tat" aufgefallen ist und/oder mit einem schlichten Platzverweis belegt wurde. Die Daten von Kindern (!) können zwei, die von Jugendlichen und Erwachsenen fünf Jahre im Speicher bleiben.

Das Grundgesetz - ein Selbstbedienungsladen?
In den letzten 10 Jahren sind mehrere, im Grundgesetz verankerte und in ihrem Wesensgehalt antifaschistisch geprägte Grundrechte entweder rigoros verändert oder bis zur Unkenntlichkeit uminterpretiert worden: Unter dem Beifall des rechten Pöbels hat der Bundestag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit - aber damals noch gegen die Stimmen der grünen Bundestagsfraktion - 1993 den Grundgesetzartikel 16 "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" so eingeschränkt, daß er faktisch außer Kraft gesetzt wurde. Gegen die geplante Grundgesetzänderung fanden damals noch Protestaktionen statt. Über 120 000 Menschen hatten sich mit ihrer Unterschrift für den Erhalt des Artikels 116 ausgesprochen. Ein Jahr später wendete das Bundesverfassungsgericht den Grundgesetzartikel 87a,Abs.2 "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausrücklich zuläßt" durch Uminterpretation in sein Gegenteil: Außer zur Verteidigung (die immer noch eine 2/3 Mehrheit braucht) darf die Bundeswehr heute Kriege führen, wo immer es eine einfache Bundestagsmehrheit für geboten hält. Proteste gegen dieses Skandalurteil, das jeden Angriffskrieg erlaubt, fielen damals recht spärlich aus. Im selben Jahr wurde Artikel 13, in dem die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert ist, durch den "Großen Lauschangriff" de facto zur Makulatur. Im vergangenen Jahr wurde aus Artikel 12a Abs. 4 "Frauen dürfen auf keinen Fall Dienst an der Waffe leisten" zu "Frauen dürfen auf keinen Fall zum Dienst an der Waffe gezwungen werden". Was kommt als nächtes?

Versammlungsfreiheit im Visier
Vielleicht Artikel 8: "Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln"? Die Vorbereitungen werden bereits getroffen. Schon fordert der Berliner Innensenator Werthebach ein generalles Demonstrationsverbot an "symbolträchtigen Orten". Was unter dem Deckmantel des Antifaschismus daherkommt - wer denkt dabei nicht an Aufmärsche von Neonazis am Brandenburger Tor? - dient in Wirklichkeit der weitgehenden Einschränkung des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit. "Symbolträchtige Orte", die flächendeckend zu demonstrationsfreien Zonen erklärt werden könnten, lassen sich schließlich in großer Zahl finden. Als weitere Gründe für Demonstrationsverbote wird die "Beeinträchtigung außenpolitischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland" diskutiert. Damit könnte jede Protestaktion gegen ausländische Staatsgäste unterbunden werden. Eine "Beeinträchtigung außenpolitischer Interessen" wäre aber mit Sicherheit jede Demonstration der Friedensbewegung gegen die Kriege, die Bundeswehr, Nato oder die neu EU-Armee künftig führen.
Der Staat schärft die Instrumente für künftige Auseinandersetzungen. Dabei geht es nicht um Neonazis und rechte Gewalt. Die gesetzlichen Grundlagen für ein konsequentes Vorgehen gegen Neofaschismus sind längst vorhanden und völlig ausreichend. Noch ist Deutschland, trotz Rentenbetrug und anderen Sozialabbaumaßnahmen ein ruhiges Land. Weitere und tiefgreifende Einschnitte ins soziale Netz sind geplant. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, die Gegensätze vertiefen sich und damit werden auch Verteilungskämpfe zunehmen und an Schärfe gewinnen. Dafür rüstet man sich.

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