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antifNACHRICHTEN an200107
Nummer 3 / Juli 2001



Bundesverfassungsgericht stellt Freibrief für Neofaschisten aus:

Der antifaschistische Auftrag des Grundgesetzes wird missachtet

von Reinhard Hildebrandt

Der 1. Mai, der für uns im Zeichen des Internationalismus, der Solidarität steht, für soziale Gerechtigkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus steht, wurde dieses Jahr durch neofaschistische Aufmärsche der NPD und anderer Neonazigruppen gestört, auf denen Hass gepredigt, zur Hetze gegen Ausländer und alles "Fremde", Nicht-"Nationale" aufgerufen und Aggressionen gegen andere Länder und Völker geschürt wurden. Welch ein Skandal, dass nun sogar das Bundesverfassungsgericht die Zusammenrottung von Neonazis staatlich schützen lässt! Welche juristische Blindheit, wenn rassistische und menschenverachtende Neonazipropaganda mit dem Hinweis auf das zu garantierende Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 Grundgesetz zugelassen wird!

Heute haben wir die Erfahrung, was Faschismus an der Macht bedeutet. Heute kann niemand mehr sagen, er wisse von den Verbrechen der Nazis nichts. Jedes Verharmlosen des Faschismus und der Neonazis ist eine Missachtung der Erfahrung der Geschichte. Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.
Dem antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes entsprechend hatten das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen und der Bayrische Verwaltungsgerichtshof die NPD-Kundgebungen in Essen und Augsburg verboten. Sie bestritten, dass die Demonstrationen der Neonazis unter den Schutz der Demonstrationsfreiheit fielen. Es blieb in beiden Fällen dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorbehalten, diese grundgesetzkonformen Urteile zugunsten der Neofaschisten aufzuheben. Auch in Berlin und Frankfurt, in Dresden und Mannheim (um nur einige Städte zu nennen) machte die Justiz den Weg frei für NPD-Aufmärsche. Ausdrücklich stellten die Karlsruher Richter fest, dass die Verbreitung von Nazi-Gedankengut unter dem Schutz des Grundgesetzes stehe. Die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht gälten auch für die "Rechtsextremisten", so die Erkenntnis. Auch der Staatsschutz behauptet, dass "rechtsextremistische Parteien" wie die DVU, die REP und die NPD und ihre Parteimitglieder "unter dem Schutz der Grundrechte" stehen, und ihnen "stehen alle demokratischen Rechte wie Wahlteilnahme, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und die Gleichbehandlung zu" (nachzulesen in der Broschüre des Verfassungsschutzes: Rechtsextremistische Parteien in Deutschland, Januar 1991, S. 8f.). Ein weiterer Skandal: Durch die Zulassung zu den Wahlen werden diese Parteien staatlich gefördert und kassieren staatliche Gelder. Allein in den letzten zehn Jahren erhielten NPD, DVU und REP über 70 Millionen DM an staatlichen Zuschüssen.

Täterschutz aus Karlsruhe
Demonstrationsverbote gegen die Aufmärsche der Neofaschisten wurden vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Mit ihrem Spruch verkehren die obersten Hüter der Verfassung den Geist und die Buchstaben des Grundgesetzes in ihr Gegenteil. Wir sind empört über diesen Täterschutz aus Karlsruhe! Wer die Neonazis marschieren und grölen lässt, macht sich in diesem Fall zum Handlanger der Neofaschisten. Er beschädigt die Demokratie und den Verfassungsstaat. Noch trägt der Artikel 139 des Grundgesetzes die Überschrift "Fortgelten der Vorschriften über die Entnazifizierung" (GG-Ausgabe der LpB Bad.-Württ.). Nach diesem Artikel ist das Verbot der neofaschistischen Parteien und Organisationen nicht nur rechtlich möglich, sondern auch geboten. Es kann jederzeit durch die Bundesregierung vollzogen werden.

Schöne Worte und vergessene Taten
Das in den 70er Jahren fälschlicherweise von konservativer Seite bemühte Wort von der "wehrhaften Demokratie" gegen die studentische Protestbewegung und Kommunisten im Staatsdienst (Berufsverbote!), hier könnte es heute wieder seine ursprüngliche Bedeutung zurückbekommen. "Den Anfängen wehren", das "Übel an der Wurzel packen", den wachsenden Neofaschismus im "Keim zu ersticken", das wäre in der Tat eine Aufgabe für die Staatsgewalt und die Justiz. Taten sind gefordert und nicht nur schöne Worte wie 1970 vor der UNO: "Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unternimmt seit Jahren wirksame Maßnahmen für das Verbot nazistischer und rassistischer Organisationen und Gruppen für deren gerichtliche Verfolgung" (United Nations, General Assembly, A/8056). Übrigens war zu dieser Erklärung der Druck der UNO-Vollversammlung nötig, die in einer Resolution vom 26. November 1968, also vor dem Hintergrund der damaligen spektakulären Wahlerfolge der NPD in der BRD, erklärte, dass "das Wiedererstarken nazistischer Organisationen in der BRD nicht als innere Angelegenheit der BRD" betrachtet werden dürfte (UN-Resolution Nr. 2438 XX, III).

Naziorganisationen sind aufzulösen
Das ist geltendes Gesetz: Naziorganisationen sind aufzulösen und zu liquidieren, "die Neubildung irgendeiner der angeführten Organisationen (wie der NSDAP), sei es unter dem gleichen oder anderem Namen, ist verboten" heißt es in den Kontrollratsgesetzen und weiter: "Schriftlich, mündlich oder anderweitig betriebene Propaganda oder Agitation, die darauf hinaus geht, militärischen oder nationalsozialistischen Geist ... zu erhalten, wieder ins Leben zu rufen oder zu fördern ... ist verboten".
Es wimmelt im Grundgesetz - und erst recht in den Länderverfassungen, die noch vor 1949 entstanden waren - nur so von einschlägigen Normen, Freiheits- und Menschenrechten, die es gegen ihre Widersacher zu schützen gilt. Dies beginnt mit der Würde des Menschen, die nach Art. 1 GG zu schützen ist und geht bis zur Verpflichtung zum Frieden und zum strikten Verbot aller Handlungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören würden.

Aufstand der Anständigen...
Die überwiegende Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen lehnt den braunen Terror , die militante Nazi-Szene und den Neofaschismus ab.
"Wer wieder rechtsextremistische Gedanken vertritt, wer sich angesichts Millionen ermordeter Juden, Sinti un Roma nicht schämt, Rassenhass zu predigen, oder wer Menschen anderer Hautfarbe, Religion, Nationalität oder anderer politischer Überzeugung verhöhnt, angreift, verletzt oder sogar tötet, handelt verantwortungslos, moralisch verwerflich und kriminell. Dafür darf es keine mildernden Umstände geben. Täter müssen durch die Gerichte bestraft werden. Ihre Taten, ihre Gesinnung müssen auch dem energischen Widerstand und Widerspruch, ja der Verachtung aller Demokraten begegnen." heißt es im Stuttgarter Aufruf (die ganzseitige Anzeige erschien in der Suttgarter Zeitung vom 3.4.2001 und wurde von mehreren hundert Menschen unterzeichnet) und weiter: "Wir werden nicht zulassen, dass Rechte und Freiheiten, die durch das Grundgesetz und allgemeine Menschenrechte verankert sind, missbraucht oder verletzt werden. Wer das tut, duldet oder toleriert, der beschädigt unsere Demokratie."

... versus Rückstand der Zuständigen
Wer in Berlin den Neonazis juristisch die Straße frei macht und der linken Szene das Demonstrationsrecht verweigert, wer in in Hamburg, Frankfurt, Dresden und einigen anderen Städten alle polizeiliche Macht einsetzt, um den Neofaschisten zu ihren provokativen Auftritten zu verhelfen, der gerät selbst ins politische Zwielicht und darf sich nicht wundern, wenn das wenige Vertrauen, das insbesondere Jugendliche noch in die Staatsgewalt haben, vollends aus ihnen herausgeknüppelt wird. Wenn der Staat Straftaten inszeniert und führende Neofaschisten großzügig bezahlt hat, wie jüngst durch den Thüringer "Verfassungsschutz" vorgeführt, gleichzeitig aber Initiativen von unten gegen Rassismus und Gewalt der Geldhahn zugedreht wird, glaubt man, in einem Tollhaus zu sitzen. In Halberstadt probt ein Mann gegen Skinheads, die mit lauten Naziliedern die Nachbarschaft belästigen, den Aufstand der Anständigen, ruft die Polizei, eine Stunde später ist der 60jährige Kaufmann tot, verblutet an vier Messerstichen. Weil er protestierte, wurde er erstochen, aus Notwehr - so das Gericht! Der Täter bekam einen Freispruch! Obwohl die Ermittler der Mordkommission beim Täter massenhaft neofaschistische CDs und Neonazi-Propaganda-Material fanden, konnte die Staatsanwältin keinen rechtsextremen Hintergrund erkennen. (Frankfurter Rundschau, 25.4.2001)

Widerstand bleibt notwendig
"Ja, die Welt hat sich geändert. Man singt in Nachtigallentönen von der Milde des modernen Strafrechts. Aus Humanitätsgefühl werden Mörder, wenn sie den Rechtsparteien angehören, nur mit Glacéhandschuhen angefaßt, und man fühlt, daß es dem Vorsitzenden leid tut, solche 'prächtigen' Menschen überhaupt bestrafen zu müssen". Diese Sätze schrieb Carl von Ossietzky im November 1926. Wie aktuell sind seine Worte!
Wo das Unrecht sich Recht nennt, wird Widerstand zur Pflicht. Widerstand ist notwendig und machbar. Ein Beispiel ist die gelungene Gegendemonstration in Mannheim, wo der NPD-Aufmarsch durch eine Blockade erfolgreich gestoppt wurde.

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