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Nummer 3 / Juli 2000

20 Jahre antifaschistische Stadtrundfahrten in Stuttgart:

"Wir sind die Zukunft -Nie wieder Krieg!"

von Reinhard Hildebrandt

In einer in der Geschichte der BRD wohl einzigartigen Festveranstaltung wurden unsere Kameradin Gertrud Müller und unsere Kameraden Alfred Hausser, Erwin Holzwarth und Hans Gasparitsch am 6. Mai 2000 im Geschwister-Scholl-Gymnasium in Stuttgart geehrt. 20 Jahre lang hatten sie als Zeitzeugen die antifaschistischen Stadtrundfahrten in Stuttgart begleitet und geführt, die vom Stadtjugendring Stuttgart e.V. in Zusammenarbeit mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten veranstaltet wurden. An diesen Fahrten haben seit 1980 über 20 000 junge Menschen aus Jugendgruppen und Schulklassen teilgenommen.
Eröffnet wurde das Programm der Festveranstaltung von Schülerinnen und Schülern der 12ten Klassen, die in einem Seminarfach das Thema "Nationalsozialismus in Stuttgart" gewählt hatten, sie trugen Buttons der Liebe, des Verständnisses, der Toleranz und boten den rund 300 Gästen an, sich für diesen Abend ein Motto auszusuchen: courage, friendship, creativity und andere. Sie selbst wählten die Worte:
"Die erste Minute gehört den Widerstandskämpfern: denjenigen, die nicht geschwiegen haben. Denen, die gegen das Unrecht gekämpft haben. Euch wollen wir heute danken. Die nächste Minute gehört den Opfern: denjenigen, die schuldlos in den KZ's, Gefängnissen, im Krieg umgekommen sind. Denen, die ihre Familien und Freunde in diesem Krieg verloren. An euch wollen wir heute denken. Die letzte Minute gehört der Jugend: Wir, die diesen Krieg nicht miterlebt haben. Wir, die wir weder Opfer noch Täter geworden sind. An uns hängt die Hoffnung nie wieder soll es soweit kommen! Wir sind die Zukunft nie wieder Krieg!"
Die Schulleiterin Irmgard Brendgen betonte in ihrer Begrüßungsrede: "Auf der Zukunft liegt der Schatten der Vergangenheit, deshalb haben wir die Pflicht, die nachgeborenen Generationen über das Terrorregime zu informieren". An unsere Zeitzeugen gewandt, erklärte sie: "Sie stehen für alle diejenigen, die sich mutig gegen das Terrorregime gestellt haben und das andere Stuttgart repräsentieren."
Oliver Moses, der Vorsitzende des Stadtjugendringes, begrüßte unter den Gästen die Bundstagsabgeordneten Ute Kumpf (SPD) und Winfried Wolf (PDS), viele Gemeinderäte aus Stuttgart und den Witschaftsbürgermeister Blessing, Vertreter der deutsch-israelischen Gesellschaft und anderer Organisationen und Verbände. Die Festrede hielt Dr. Michel Friedmann, stellvertretender Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. "Kinder werden nicht als Antisemiten, Rassisten, Faschisten geboren, sie wollen das Leben gestalten und in Frieden miteinander leben", betonte er. Es liege sehr viel Verantwortung bei den Erwachsenen, die Lernfähigkeit eines jeden Menschen in die richtige Richtung zu lenken. Er glaube nicht daran, dass man im Naziregime nichts habe tun können, dass ein Einzelner nichts hätte bewirken können. Es gibt viele Beispiele, die das Gegenteil zeigten. Für ihn sei die Frage nicht "wo ist der Endpunkt von Gewalt", sondern "wo fängt die Gewalt an?" und "wann beginnt die Ermordung von Menschen? In Auschwitz, oder bereits als die Synagogen brannten, als die Nachbarn abgeholt wurden oder die Menschen den gelben Stern trugen?" Oder auf die Gegenwart bezogen, erst bei den brennenden Häusern von Türken, Ausländern, Asylbewerbern, den Morden von Solingen, Mölln und anderswo? Oder bereits bei den rechtsextremen Parteien in der Parlamenten, oder bei den Tausenden homepages der Neonazis im Internet mit ihrer Hasspropaganda? Er prangerte die Gleichgültigkeit vieler Menschen an, die sich an die menschenfeindliche Gewalt und den Terror der Neonazis gewöhnt haben, man dürfe nicht akzeptieren, dass dies zum Alltag in Deutschland gehöre. Leidenschaftlich widersprach Friedman dem Satz "Man kann ja doch nichts tun!" und appellierte, sich für die Menschenrechte einzusetzen: "Ich glaube fest daran, dass jeder einzelne Mensch Unrecht verhindern kann!"
"Die Idee der antifaschistischen Stadtrundfahrten wurde 1979 nach dem Dortmunder Bundeskongress der VVN geboren. Wir wollten auf den Spuren des Dritten Reiches an die Orte der Verfolgung gehen, um unsere Erzählungen anschaulicher zu machen und den Jugendlichen ein authentisches Bild unseres Leidensweges geben", erzählte Hans Gasparitsch, der in einer sehr persönlich gehaltenen Rede für alle anwesenden Zeitzeugen sprach. Und Oliver Moses, der selbst durch eine solche Fahrt beeindruckt und begeistert war und seitdem Mitglied der VVN-BdA ist und im Vorstand des Stadtjugendrings tätig, ergänzte, in der Gründungszeit habe es noch Bedenken gegen die Zeitzeugen der VVN gegeben, da diese aus dem kommunistischen Widerstand in Nazideutschland kamen. Aber "um Geschichte begreifbar zu machen, müssen die Jugendlichen mit Zeitzeugen die Orte der Verfolgung aufsuchen. ... Mit diesen Fahrten, aber auch mit der Gedenkveranstaltung für Lilo Hermann oder den Film Mut ohne Befehl, zeigt der Stadtjugendring politisch Flagge und das ist gut so." Er würdigte die jahrzehntelange ehrenamtliche Arbeit von Alfred Hausser, Gertrud Müller, Hans Gasparitsch und Erwin Holzwarth. "Ich bin 'unseren' Zeitzeugen persönlich dankbar für ihre Arbeit, sie haben mich in meinem politischen Wirken geprägt". Heute, da ihre Arbeit aufgrund ihres hohen Alters und gesundheitlicher Beschwerden eingeschränkt ist, sei es an der Zeit, dass nachfolgende Generationen ihre Arbeit übernehmen. Diese Aufgabe hat ein Arbeitskreis "Antifaschistische Stadtrundfahrten" übernommen, der im Herbst 1999 gegründet wurde.
Musikalisch umrahmt wurde die Festveranstaltung mit jiddischen Liedern und Klezmer-Musik, vorgetragen von den Musikerinnen "Three Times A Lady".

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