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Nummer 1 / Mai 2009



Erbe des europäischen Widerstandes:

Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt!

Ingrid Bauz

Vom 24.-27. Januar 2009 trafen sich auf Initiative des Internationalen Auschwitz Komitee die Präsidenten von neun Internationalen Komitees ehemaliger deutsche Konzentrationslager (Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Nebenlager Dachau, Flossenbürg, Mittelbau-Dora) in Berlin. Auf dem Programm stand ein Treffen mit DirektoInnen der Gedenkstätten, ein Empfang beim Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit und bei Bundespräsident Köhler sowie die Übergabe des "Vermächtnis" der Überlebenden an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Lammert.

Bei dem Treffen mit den DirektorInnen der Gedenkstätten wurde auf der Basis eines Rückblicks auf das Jahrzehnte lange Engagement der Überlebenden Bilanz gezogen. Noach Flug, der Präsident des Internationalen Auschwitz Komitee überschrieb die Aufgabe zu Worten: "Was haben wir erreicht mit unserer Erinnerungsarbeit, unseren pädagogischen und politischen Initiativen und vor allem bei unseren Gesprächen mit jungen Menschen und was wollen wir weitergeben an die jüngeren Generationen, die mittlerweile in den Gedenkstätten und in unseren Komitees oder Stiftungen eng mit uns zusammenarbeiten." Wie jede Bilanz, besteht auch diese nicht nur aus einer Erfolgsseite. Bei der Sicht auf die Welt von heute mussten die Überlebenden fest stellen: "Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt. Gerade deshalb müssen Erinnerung und Gedenken weiterhin gleichermaßen Aufgabe der Bürger und der Staaten sein."

Symbolisches Treffen
Beim Empfang des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit am 26. Januar 2009 im Berliner Rathaus betonte Dr. Annette Chalut, die Präsidentin des Internationalen Ravensbrück Komitee: "Für uns ist dieses Treffen - gerade hier in Berlin - ein symbolisches Treffen: Unsere Arbeit gilt der Zukunft, wir sind die Botschafter all unserer Kameradinnen und Kameraden, die in den Lagern ermordet wurden".
Bundespräsident Horst Köhler empfing die Überlebenden und die Leiter der Gedenkstätten in Schloss Bellevue und dankte ihnen für ihr wichtiges pädagogisches und politische Engagement

Ursachen und Wirkung benennen
Ein Höhepunkt dieser Berliner Tage war zweifellos die Übergabe des "Vermächtnis" der Überlebenden an die Öffentlichkeit. Pierre Gouffault, der Präsident des Internationalen Sachsenhausen Komitee sagte hierzu bei einer Pressekonferenz am 26.1.2009: "Das Vermächtnis, das wir heute übergeben, ist auch das Vermächtnis des europäischen Widerstandes. In Deutschland zunächst und dann in allen europäischen Staaten, in denen die Nationalsozialisten die Bevölkerung unterdrückten, gab es nicht nur Kollaboration - diese leider in erschreckendem Ausmaß, sondern es gab auch Tausende von Menschen, die die Herrschaft der Nationalsozialisten zu stürzen versuchten. (...) In ihren Museen und auch in ihrer pädagogischen Arbeit müssen die Gedenkstätten auch in der Zukunft den europäischen Widerstand würdigen". Gouffault äußerste sich mit deutlichen Worten zu den äußerst bedenklichen Tendenzen, die unter dem Stichwort "Erinnerung an beide Diktaturen" Einzug in die bundesrepublikanische Gedenkstättenpolitik gefunden haben: "Zum Schluss möchte ich Ihnen meine große Sorge mitteilen: Auch in der Zukunft darf es an allen Orten zweifacher Vergangenheit keine Vermischung der historischen Phasen geben. Ursachen und Wirkungen müssen klar benannt und die Unterschiede deutlich gemacht werden, auch wenn wir anerkennen, dass nach 1945 neues Leid und neues Unrecht geschehen ist. Wir werden aber nie akzeptieren, dass diese Phasen der Darstellung der Geschichte vor und nach dem Ende des zweiten Weltkrieges miteinander vermischt werden."
Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz und "Internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus" übergaben die Präsidenten der Internationalen Komitees ihr "Vermächtnis" dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Lammert, stellvertretend für die deutsche Öffentlichkeit.

Baustein für die künftige Arbeit
Die Bedeutung des schriftlichen Vermächtnisses liegt vor allem darin, dass es die Arbeit derer, die sich heute in den Lagergemeinschaften, Freundeskreisen oder sonstigen Initiativen engagieren legitimieren soll. Diese Legitimation wird besonders im zukünftigen Umgang mit offiziellen Stellen, mit Stiftungen, aber auch mit Gedenkstättenleitungen von Nöten sein. Dass die Übergabe des Vermächtnisses, trotz Pressekonferenz, von den überregionalen Medien weitgehend ignoriert wurde, ist der erste große Stein, der ihm in den Weg gelegt wurde, denn ohne breite Öffentlichkeit wird dieser Text seine Wirkungskraft nicht entfalten können. Damit dieser, für die zukünftige Arbeit der Nachfolgeorganisationen und für die erinnerungspolitische Auseinandersetzung überaus wichtige Text, bekannt werden kann und nicht nur das Papier bliebt, auf das er geschrieben wurde, soll er an dieser Stelle im Wortlaut dokumentiert werden.


Vermächtnis der Überlebenden:
Erinnerung bewahren - authentische Orte erhalten - Verantwortung übernehmen
Wir, die Unterzeichnenden, Überlebende der deutschen Konzentrationslager, Frauen und Männer, vertreten Internationale Häftlingskomitees der Konzentrationslager und ihrer Außenlager. Wir gedenken unserer ermordeten Familien und der Millionen Opfer, die an diesen Orten der Asche getötet wurden. Ihre Verfolgung und Ermordung aus rassischen, politischen, religiösen, sozialen, biologischen und ökonomischen Gründen und ein verbrecherischer Krieg haben die Welt an den Rand des Abgrunds geführt und eine schreckliche Bilanz hinterlassen.
Nach unserer Befreiung schworen wir eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen: Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir darum bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren.
Gerade deshalb schmerzt und empört es uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt. Gerade deshalb müssen Erinnerung und Gedenken weiterhin gleichermaßen Aufgabe der Bürger und der Staaten sein.
Die ehemaligen Lager sind heute steinerne Zeugen: Sie sind Tatorte, internationale Friedhöfe, Museen und Orte des Lernens. Sie sind Beweise gegen Verleugnung und Verharmlosung und müssen auf Dauer erhalten werden. Sie sind Ort der wissenschaftlichen Forschung und des pädagogischen Engagements. Die pädagogische Betreuung der Besucher muss ausreichend gewährleistet sein.
Die unvergleichlichen Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten - erinnert werden muss in diesem Zusammenhang vor allem an den Holocaust - geschahen in deutscher Verantwortung. Deutschland hat viel zur Aufarbeitung seiner Geschichte getan. Wir erwarten, dass die Bundesrepublik und ihre Bürger auch in Zukunft ihrer Verantwortung in besonderem Maße gerecht werden.
Aber auch Europa hat seine Aufgabe: Anstatt unsere Ideale für Demokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenrechte durchzusetzen, wird Geschichte nicht selten benutzt, um zwischen Menschen, Gruppen und Völkern Zwietracht zu säen. Wir werden uns dagegen, dass Schuld gegeneinander aufgerechnet, Erfahrungen und Leid hierarchisiert, Opfer miteinander in Konkurrenz gebracht und historische Phasen miteinander vermischt werden. Daher bekräftigen wir den von der ehemaligen Präsidentin des Europäischen Parlaments und Auschwitz-Überlebenden Simone Veil vor dem Deutschen Bundestag 2004 ausgesprochenen Appell zur Weitergabe der Erinnerung: "Europa sollte seine gemeinsame Vergangenheit als Ganzes kennen und zu ihr stehen, mit allen Licht- und Schattenseiten; jeder Mitgliedstaat sollte um seine Fehler und sein Versagen wissen und sich dazu bekennen, mit seiner eigenen Vergangenheit im Reinen zu sein, um auch mit seinen Nachbarn im Reinen sein zu können." Unsere Reihen lichten sich. In allen Instanzen unserer Verbände, auf nationaler wie internationaler Ebene, treten Menschen an unsere Seite, um die Erinnerung aufzunehmen: Sie geben uns Vertrauen in die Zukunft, sie setzen unsere Arbeit fort. Der Dialog, der mit uns begonnen wurde, muss mit ihnen fortgeführt werden. Für diese Arbeit benötigen sie die Unterstützung von Staat und Gesellschaft.
Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen. Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Nazi-Ideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen, eine Welt, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus keinen Platz haben sollen.
Dies sei unser Vermächtnis.

Berlin, 25. Januar 2009
Noach Flug (Jerusalem), Internationales Auschwitz Komitee
Sam Bloch (New York), World Federation of Bergen-Belsen
Bertrand Herz (Paris), Internationales Buchenwald Komitee
Max Mannheimer (München), Internationales Dachau Komitee
Uri Chanoch (Jerusalem), Internationales Komitee Nebenlager Dachau
Jack Terry (New York), Internationales Flossenbürg Komitee
Albert van Hoey (Brüssel), Internationales Komitee Mittelbau-Dora
Robert Pincon (Tours), Internationales Neuengamme Komitee
Annette Chalut (Paris), Internationales Ravensbrück Komitee
Pierre Gouffault (Paris), Internationales Sachsenhausen Komitee



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