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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 1 / Mai 2009



Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle:

Verdrängt und ungesühnt

Ralf Bogen

Nach offiziellen Statistiken wurden zwischen 1933 und dem Kriegsende im Mai 1945 etwa 100.000 Männer in Deutschland in §175-Gerichtsverfahren angeklagt und rund die Hälfte davon verurteilt.

Nach diesem Paragraphen, den die Nazis 1935 erheblich verschärft hatten, wurden unter "Unzucht unter Männern" auch schon einfachste oder vermutete gleichgeschlechtliche Liebesbekundungen wie Blickkontakte und Liebesbriefe verstanden und staatlich verfolgt. Erklärtes Ziel der NSDAP war es, die Homosexualität "auszurotten". Hierzu konnten sie Jahrhunderte alte, religiöse Vorurteile über die angebliche "Unnormalität" und "Widernatürlichkeit" der Homosexualität instrumentalisieren und so zuspitzen, dass auch Kastrationen und Tötungen von homosexuellen Männern legitimiert wurden1. Wegen "§175-Verbrechen" wurden etwa 10.000 Männer in Konzentrationslager verschleppt, mit dem "Rosa Winkel" erniedrigt, gefoltert, zu Tode geschunden und ermordet.
Wie die Kripoleitstelle hatten die Stuttgarter Gestapomitarbeiter und ihre dazugehörenden Zweigstellen mit dem sog. Vordruck B ("Meldung über Verbrechen und Vergehen nach den §§ 174, 175, 175a und 176 RStGB") der Reichszentrale die Personalien der Homosexuellen aus der Region Württemberg und dem Regierungsbezirk Sigmaringen sowie die Namen ihrer Sexualpartner zu melden. Doch bei der Bekämpfung der Homosexualität ging es nicht nur um ihre Erfassung. Durch die sog. "Schutz"haft als Instrument der Geheimen Staatspolizei und die sog. "Polizeiliche Vorbeugehaft" als Instrument der Kriminalpolizei wurde eine dem Zugriff der Justiz entzogene Praxis der KZ-Haft eingeführt. Ab 1940 wurde aufgrund eines Erlasses von Himmler alle Homosexuellen, die mehr als einen Sexualpartner gehabt hatten, nach Verbüßung ihrer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe in ein KZ gebracht. Auch ohne diese Anweisung waren längst vor 1940 homosexuelle Männer aus Stuttgart und anderen Städten von der Polizei in KZs verschleppt worden.
Homosexuelle kamen schlimmstenfalls nicht nur in KZs. Noch 1944 erhielt Josef W. wegen "Verbrechen nach §175 StGB" vom "Sondergericht für den Oberlandgerichtsbezirk Stuttgart" sogleich ein Todesurteil. Im Urteil wurde er im Nazijargon "als gefährlicher Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrecher" bezeichnet.2
Der §175 blieb in der Nazifassung bis 1969 bestehen. Dadurch war es den Homosexuellen nicht möglich, sich wie die anderen Opfergruppen in Verfolgtenverbänden zu organisieren, das erlebte Unrecht zu dokumentieren und eine Wiedergutmachung einzufordern.

"Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft"
Im Rahmen eines Programms des United States Holocaust Memorial Museums am 28. Mai 1995 in Washington DC wurde ein Memorandum von acht homosexuellen Überlebenden aus vier Ländern erstmals veröffentlicht, in dem es u. a. heißt: "Vor 50 Jahren wurden wir von den alliierten Truppen aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen befreit.
Aber die Welt, auf die wir gehofft hatten, wurde nicht wahr. Wir mussten uns wiederum verstecken und wurden erneuter Verfolgung ausgesetzt. (...) Einige von uns - gerade aus den Lagern befreit - wurden erneut zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. (...)
Heute sind wir zu alt und zu müde, um für die Anerkennung des an uns begangenen Unrechts zu kämpfen. Viele von uns wagten es nie, darüber zu sprechen. Viele von uns starben allein mit den qualvollen Erinnerungen. Wir haben lange, aber vergeblich auf eine deutliche politische und finanzielle Geste der deutschen Regierung und deutscher Gerichte gewartet.
Unsere Verfolgung wird heute an Schulen und Universitäten kaum erwähnt. Selbst in Holocaust Museen und Gedenkstätten werden wir als verfolgte Gruppe manchmal nicht einmal genannt.
Heute, 50 Jahre später, wenden wir uns an die junge Generation und an alle, die sich nicht von Hass und Vorurteilen leiten lassen wollen. Helfen Sie mit, sich mit uns zusammen gegen eine noch immer von Vorurteilen geprägte und unvollständige Erinnerung der nationalsozialistischen Verfolgung von Homosexuellen zu wehren. Lassen Sie uns das an Juden, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Freimaurern, Behinderten, polnischen wie russischen Kriegsgefangenen, Homosexuellen und vielen anderen begangene Unrecht nie vergessen. Lassen Sie uns aus der Geschichte lernen und die jüngere Generation von homosexuellen Frauen und Männern, Mädchen und Jungen dabei unterstützen, ihr Leben im Gegensatz zu uns in Würde und Respekt zusammen mit ihren Partnern, Freunden und Familien führen zu können. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft." 3
In diesem Sinne wollen wir uns von der Weissenburg e. V. nach Kräften an der Initiative Gedenkstätte Hotel Silber beteiligen. Mit der angestrebten Gedenk- und Lernstätte im Gebäude der ehemaligen Gestapo-Zentrale des Hotel Silbers verbinden wir die Hoffnung, - dass neben den anderen Opfergruppen auch an die Schicksale homosexueller Stuttgarter mitten im Zentrum der Stadt dauerhaft erinnert wird und - dass die bisherige Politik des Totschweigen, Verdrängen und Vergessen dieses Teils der NS-Terrorherrschaft durch eine aktive Beteiligung der Stadt Stuttgart, des Landes Baden-Württemberg und der Geschichtswissenschaft in Stuttgart und Tübingen an der Aufarbeitung homosexueller Schicksale während der NS-Zeit in unserer Region endlich überwunden werden kann.
Wir wünschen uns insbesondere, dass durch die angestrebte Gedenk- und Lernstätte Schulklassen dazu angeregt werden, sich mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen. Denn bis heute ist das Thema Liebes- und Lebensvielfalt und dabei die gleichgeschlechtliche Liebe meist kein Thema im Unterricht, aber dennoch immer wieder Thema im Schulalltag in Form von Mobbing und Beleidigungen. Schimpfwörter wie "Schwule Sau" gehören noch immer in vielen Stuttgarter Schulen zum Schulalltag und werden allzu oft von Schulleitungen passiv und als relativ "normal" hingenommen4. Wir hoffen mit unserer Erinnerungsarbeit eine bejahende Einstellung zur Vielfalt von SchülerInnen, LehrerInnen und von allen Menschen fördern zu können, egal ob es um die Merkmale "Gender", "ethische Herkunft", "Behinderung" oder "sexuelle Orientierung" geht. Denn diese positive Einstellung halten wir sowohl für jede/n Einzelne/n als auch für das Klima in der Schule und in der gesamten Gesellschaft für wichtig. Neonazis und faschistische Einstellungen hingegen dürfen in Deutschland und weltweit nie wieder eine Chance erhalten oder gar noch staatlich durch Wahlkampfkostenerstattungen finanziert werden.

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