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Nummer 2 / August 2007



Wiedergutmachung:

60 Jahre und kein Ende

LV

Man stelle sich die Situation der Widerstandskämpfer, der Hinterbliebenen nach dem Ende der Naziherrschaft 1945 vor: die aus den KZ-Lagern und Strafanstalten befreiten Häftlinge besassen meist nur das, was sie auf dem Leib hatten, dazu ausgehungert, entkräftet und psychisch angeschlagen. In ähnlichem Zustand befanden sich die aus der Emigration oder aus den Kriegsgefangenenlagern Zurückgekehrten. Sie brauchten Hilfe.

Noch ehe staatliche Organe handlungsfähig waren, bildeten sich Hilfskomitees aus den Reihen der Opfer mit Unterstützung der Kommunen. Es gab Bezugsscheine für erhöhte Lebensmittelrationen, bevorzugte Zuweisung von Kleidung und Wohnraum.

Hilfe in der ersten Not
Schon vor Gründung der VVN ist die in der Zeit des spanischen Bürgerkrieges in der Schweiz gegründete Süddeutsche Ärzte- und Sanitätshilfe in Aktion getreten. Hochwertige Lebensmittel, aus der Schweiz importierte Medikamente, Kleidung kamen an die Opfer zur Verteilung. Später wurden Kur- und Ferienplätze vermittelt. Für viele war das Harpprecht-Haus auf der Schwäbischen Alb der erste Urlaubsort.
Mit der Gründung der VVN wurde die Forderung nach einer gesetzlich geregelten Wiedergutmachung, oder besser gesagt Entschädigung für begangenes Unrecht an den Staat erhoben. Bereits am 9.7.1947 ist für die damals zur US-Zone gehörenden Landesteile das Gesetz Nr. 169 über die Bildung eines Sonderfonds zum Zwecke der Wiedergutmachung in Kraft getreten. Die Behebung gesundheitlicher Schäden stand dabei im Vordergrund. Die Wiedergutmachungsämter in Karlsruhe und Stuttgart nahmen ihre Arbeit auf. Ähnlich verlief die Entwicklung auch in den französisch besetzten Landesteilen. So wirkte zum Beispiel im Kreis Lörrach eine hervorragende Betreuungstelle.
Je mehr die von den Nazis angerichteten Schäden offenkundig wurden, desto mehr entstand auch der Zwang zu einer umfassenden Regelung. Für die Länder der US-Zone verabschiedete der Süddeutsche Länderrat in Stuttgart am 24.4.1949 ein zoneneinheitliches Gesetz, das aber noch der Zustimmung des US-Gouverneurs bedurfte. Um dies zu erreichen, gingen die Verfolgten in München und Stuttgart auf die Strasse. Am 9. August 1949 erfolgte seine Unterschrift.
Zur Beratung der Verfolgten über die notwendigen Formalitäten wurden in allen Kreisen "Öffentliche Anwälte", so die offizielle Amtsbezeichnung, bestellt. Meistens waren es VVN-Kameraden, die über Jahre hinweg ein wichtiges Bindeglied zwischen den Verfolgten und der Wiedergutmachungsbehörde waren. Dankbar sei bei dieser Rückschau an verdiente Kameraden wie Bruno Lindner, Wilhelm Eppinger, Karl Mager, Otto Hafner, Wilhelm Deuschle, Eugen Nagel und andere erinnert.
Für die französisch besetzten Landesteile traten ähnliche Gesetze im Mai 1950 in Kraft. Weitere Gesetze kamen hinzu, z.B. Wiedergutmachung in der Sozialversicherung, im Öffentlichen Dienst zur Rückerstattung beschlagnahmter Vermögenswerte, Zusatzurlaub, erhöhter Kündigungsschutz usw. Auch in der britischen Zone wurde ein Entschädigungsgesetz erlassen. Dadurch ist in der Bundesrepublik eine sehr unterschiedliche Rechtslage entstanden. Ein bundeseinheitliches Gesetz war zwingend erforderlich. So ist am 1.10.1953 das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) in Kraft getreten.

Wiedergutmachung im Kalten Krieg
Bald stellten sich in der Praxis erhebliche Mängel heraus. In Denkschriften an das Bundesfinanzministerium und Vorsprachen bei den Fraktionen in Bonn kämpften wir um Verbesserungen. Dies gelang teilweise in der Neufassung des BEG vom 29.6.1956, mit dem aber zugleich der Kalte Krieg gegen die Opfer des Nationalsozialismus inszeniert wurde. Der neu eingeführte §6 Abs.2 BEG enthielt die Vorschrift, daß im Falle der "Bekämpfung der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" die Wiedergutmachung zu versagen sei. Dies traf nach dem KPD-Verbot vor allem viele kommunistische WiderstandskämperInnen. Zahlreichen Opfern wurde in der Folgezeit der Anspruch verweigert. Im September 1965 trat dann das BEG-Schlußgesetz in Kraft, das die verheerende Bestimmung enthielt, daß nach dem 31.12.1969 keine Ansprüche mehr angemeldet werden konnten. Unzählige Opfergruppen wurden damit von einem Rechtsanspruch auf Entschädigung ausgeschlossen. Es mussten Härtefonds eingerichtet werden, aus denen im Falle der Bedürftigkeit der besonders schwerer Verfolgung Einmalzahlungen oder laufende Beihilfen zu erhalten waren. Die Wiedergutmachung wurde so zur Sozialhilfe degradiert.

Interessensvertretung der Verfolgten
Die VVN bemühte sich über Jahre hinweg, Wiedergutmachungsleistungen für die Verfolgten und ihre Hinterbliebenen zu erreichen. Zahlreiche Kameraden wurden zur Beratung unserer Mitglieder geschult. Vom Justizministerium wurde uns nach § 183 BEG die Erlaubnis zur Vertretung unserer Mitglieder gegenüber den Entschädigungsbehörden und Gerichten erteilt. Über viele Jahre hinweg hielt die VVN in vielen Städten des Landes Sprechstunden ab, in denen unsere Mitglieder beraten und Anträge bearbeitet wurden. Über den Umfang dieser Arbeit mögen einige Zahlen sprechen: Im Zeitraum zwischen 1971 bis 1996 wurden 2006 Entscheidungen erwirkt. Auf dem Klageweg konnte durchgesetzt werden, daß die meisten (1882) Haftentschädigung, Lohnausfall, Renten wegen Gesundheitsschade-nund Heilverfahren, Versicherungszeiten in der Sozialversicherung usw. erhielten. Unsere Arbeit hat sich für unsere Mitglieder gelohnt. Wie oft konnten wir mit unseren eigenen Erfahrungen aus der Verfolgung medizinische Gutachten widerlegen und unseren Kameraden zu einer Rente verhelfen.

Was damals recht war ...
Aus der Vielzahl der bearbeiteten Anträge sei nur an den Fall "Mössingen" erinnert, wo am 31. Januar ein Streik gegen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verbunden mit einer Demonstration stattfand. Im Jahr 1933 wurden 74 Teilnehmer vom Landgericht Tübingen wegen Landfriedensbruch zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Ihr Entschädigungsantrag wurde 20 Jahre später immer noch als kriminelle Handlung eingestuft und abgewiesen. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz wurde der Anspruch erneut und wiederum unter Bezugnahme auf das Urteil vom Juli 1933 zurückgewiesen. Erst auf dem Klageweg über zwei Instanzen konnten wir den Mössinger Kameraden ihre Entschädigung verschaffen. Es gelang uns, das Gericht zu überzeugen, daß der spontane Protest gegen Hitler das richtige Mittel zur Verhinderung der faschistischen Diktatur war, wenn es überall angewandt worden wäre.

Wettlauf mit der Zeit
Die Wiedergutmachung ist inzwischen ein Wettlauf mit dem Tod geworden. Unzählige Opfer im In- und Ausland warten noch auf eine Entschädigung. Ich nenne einige Gruppen: Die Opfer der Militärjustiz, der Zwangsarbeiter, die Homosexuellen. Die Wiedergutmachung ist kein Ruhmesblatt für die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik. Die VVN-BdA fordert, daß alle bis jetzt immer noch ausgegrenzten Opfer schnellstens entschädigt werden, wobei die Betriebe wegen Ausbeutung der Zwangsarbeiter in die Pflicht genommen werden müssen.

Nachtrag Zwangsarbeit
Den obigen Text schrieb der 2003 verstorbene Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, Alfred Hausser im Jahre 1997, zu einer Zeit also, in der er schon längst in einer der schwierigsten Kampagnen seines Lebens steckte: Die Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter war ihm, der selbst als Zwangsarbeiter die Jahre seiner Haft unter den Nazis verbracht hatte, nach Jahren des Einsatzes für Wiedergutmachung für Naziopfer zum Lebensziel geworden.
Nachdem sich in dieser Sache Jahrzehnte nichts bewegt hatte, ergriff er 1986 die Initiative und gründete gemeinsam mit anderen Betroffen die "Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime". Gestützt auf den Rückhalt der VVN-BdA entfaltete diese Interessengemeinschaft unter der Federführung Alfred Haussers zahlreiche Initiativen, um Bewegung in die immer wieder vergessene, verdrängte und bewusst unterdrückte Frage der Entschädigung für die Zwangsarbeit zu bringen, die deutschen Konzernen zu Milliardengewinnen verholfen hatte.
Die Interessengemeinschaft stellte Informationen für die Betroffenen zusammen und diente als Anlaufstelle für ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus ganz Europa. Unermüdlich mahnte Alfred Hausser auf vielen Veranstaltungen und Tagungen und in zahlreichen Publikationen eine länst überfällige Entschädigung an. Erst im Jahre 2000 kam es dann nach langem Tauziehen zu einem Entschädigungsverfahren - ein hart erkämpfter Erfolg für die Opfer und ihre Vorkämpfer wie Alfred Hausser.

Druck aus dem In- und Ausland
Dieses Entschädigungsgesetz des Jahres 2000 kam nur nach internationalem Druck, vor allem dem Druck von Sammelklagen überlebender Opfer in den USA gegen deutsche Nobelexportfirmen zu Stande, und wurde erneut mit Bedingungen, Mittelbegrenzung, Befristungen und Ausschlusstatbeständen befrachtet. Von dem auf 5 Milliarden begrenzten Fond zahlten Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitiert hatten, die Hälfte, während die andere Hälfte den Steuerzahlern aufgebürdet wurde. Das Gesetz ist geprägt von der jahrzehntelangen Weigerung von Staat und Wirtschaft, den Großprofiteuren des Sklavenarbeitssystems von damals, für diese Verbrechen der Nazizeit die ganze Verantwortung für zerstörte Lebensjahre, für physische und psychische Schäden und für vorenthaltenen Lohn der Opfer zu übernehmen.
2007 wurden die Entschädigungen abgeschlossen. An etwa 1,7 Millionen ehemalige Zwangsarbeiterinen wurden 5,1 Milliarden Euro ausgezahlt, durchschnittlich also 1380 €, im Höchstfall 7500 €. Ein wahrhaft bescheidener Betrag für entgangenen Lohn und erduldete Qualen.
Ausgeschlossen bleiben bis heute jene, die die Antragsfristen nicht einhalten konnten und zahlreiche Opfergruppen, die bereits per Gesetz von den Zahlungen ausgeschlossen wurden. Exemplarisch seien genannt: die außerhalb des deutschen Reichsgebiets, oft in ihrer Heimat eingesetzten Zwangsarbeiter; die in Landwirtschaft und Haushalten Zwangsbeschäftigten und die italienischen Militärinternierten.

Brosamen vom Herrentisch
Bezeichnend auch für die Zwangsarbeiterentschädigung ist die Grundhaltung, dass seit 1949 die Zuständigkeit für Wiedergutmachungsrecht beim Bundeskassenwart, nicht etwa bei dem für "Recht und Unrecht" zuständigen Justizminister liegt.
Unter diesem Blickwinkel ist es gewiss kein Zufall, dass das in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung von 1998 angekündigte weitere Projekt einer Stiftung "Entschädigung für NS-Unrecht", nämlich für die "vergessenen Opfer", in der Versenkung verschwunden ist. Nicht "vergessen" sind die Opfer, sie werden schlicht ignoriert, wie die schändliche Verweigerung jeder Entschädigung beispielsweise der griechischen oder italienischen Zivilopfer aus der Zeit der deutschen Okkupation zeigt.
Thomas Kuczynski stellt seiner Untersuchung zur Zwangsarbeiterentschädigung einen Satz aus einem Brief Rosa Luxemburgs vom November 1917 voran: "Ich weiß genau, dass die Abrechnung nach ‚Gerechtigkeit' niemals stattfindet <...> und so werden auch die heutigen Sünden <...> und all die Niedertracht sich in dem Wust historisch unbeglichener Rechnungen verlieren...". Der Titel von Kuczynskis Veröffentlichung trifft ins Schwarze: "Brosamen vom Herrentisch".

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