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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 1 / Mai 2007



Der Fall Filbinger-Oettinger:

Historisch-politische Defizite sind die Hauptursache der Affäre

Prof. Dr. Wolfram Wette

Es begann mit einer Provokation: Ministerpräsident Günther Oettinger missbrauchte seine Trauerrede im Freiburger Münster für den verstorbenen Amtsvorgänger Karl Filbinger zu Aussagen, die man getrost als Geschichtsfälschung bezeichnen darf.

Filbinger, sagte Oettinger, sei "kein Nationalsozialist" gewesen, sondern "ein Gegner des NS-Regimes". Des Weiteren wiederholte er die seit seinem Sturz vom Amte des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg im Jahre 1978 immer wiederholte Behauptung des ehemaligen Marinerichters in Hitlers Wehrmacht: Es gebe "kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte". Dabei klebte Oettinger bis in den Wortlaut hinein an Filbingers eigenen Rechtfertigungsformulierungen.

Zwei gleiche Fälle?
Filbinger, geboren 1913, im Jahre der Machtübertragung auf Hitler also 20 Jahre alt, studierte Rechtswissenschaften. Er trat dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) und der nationalsozialistischen Kampforganisation SA ("Sturmabteilung") bei. Aus eigenem Antrieb produzierte der ehrgeizige Opportunist und Streber in fachjuristischen Publikationen politische Anpassungsleistungen an die NS-Ideologie. Wie gerade dieser Tage vom Bundesarchiv in Berlin dokumentarisch bestätigt wurde, trat er 1937 auf eigenen Antrag der NSDAP bei - und konnte hernach seine Referendarsausbildung beginnen.
Der ungefähr gleichaltrige Jurastudent Heinz Drossel lehnte es im Jahre 1939 demonstrativ ab, einer NS-Organisation beizutreten. Das hatte zur Folge, dass er seine juristische Ausbildung nicht zum Abschluss bringen konnte. Er wurde sogleich gegen seinen Willen zur Wehrmacht eingezogen. Dort verwendete man ihn wegen seiner juristischen Vorbildung gelegentlich als Verteidiger angeklagter Soldaten, aber natürlich nicht als Militärrichter. Drossel ließ einen gefangenen Politkommissar der Roten Armee laufen und bewahrte ihn damit vor der Erschießung. Bei Kriegsende rettete er in Berlin einer jüdischen Familie das Leben. Erst nach dem Kriege konnte er seine juristische Ausbildung fortsetzen. In der Zeit der Bundesrepublik protestierte er mehrfach gegen alte Nazis in hohen Positionen bundesdeutscher Gerichte und förderte auch damit nicht gerade seine Karriere. Am Ende seiner Laufbahn war er Sozialgerichtspräsident in Filbingers Heimatstadt Freiburg im Breisgau. Heinz Drossel hatte Hitlers verbrecherische Ziele schon 1933 durchschaut. Er war ein denkender und handelnder Nazi-Gegner und ein widerständiger "Retter in Uniform", der für seine humanen Überzeugungen viel riskierte.
Will etwa Oettinger Gegenpole wie Hans Filbinger und Heinz Drossel mit der vagen Formel "Gegner des NS-Regimes" gleichsetzen? Das wäre eine Verhöhnung der wirklich Widerständigen. Für nicht akzeptabel halte ich auch, dass Oettinger in einer seiner Stellungnahmen, noch vor dem Zurückrudern, die Namen Filbinger und Graf Stauffenberg in einem Atemzug erwähnt und damit einen suggestiven Zusammenhang zwischen dem Nazi und dem Widerstandskämpfer herstellt.
Die Behauptung, es gebe "kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte", ist zwar formaljuristisch korrekt, aber moralisch fragwürdig. Denn sie schiebt die Verantwortung beiseite und lässt keinerlei Bedauern oder Reue erkennen. Filbinger hat zwei Deserteure der Wehrmacht, die nach Schweden fliehen konnten, in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er spricht daher von "Phantomurteilen", als ob diese nicht existiert hätten. Im Falle der Festnahme der Fahnenflüchtigen wäre das Todesurteil sogleich vollstreckt worden. Im Falle des Matrosen Walter Gröger hat Filbinger die Todesstrafe beantragt. Das Urteil fällte ein anderer Marinerichter. Filbinger leitete die Erschießung.

Ein Helfer in Hitlers Kriegsmaschine
Niemand hat behauptet, der knapp über 30-jährige Marinejurist Filbinger sei ein extrem harter Richter gewesen. Ein "furchtbarer Jurist" war er lediglich insoweit, als er ein ganz normaler Militärjurist des NS-Staates gewesen ist, der dazu beitrug, die Hitlersche Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten. Der beteiligt war an der ungeheuerlichen Mordbilanz von 30 000 Todesurteilen gegen deutsche Soldaten, von denen mehr als 15 000 vollstreckt wurden. Weiß Oettinger nicht, dass das höchste deutsche Gericht in Strafangelegenheiten, der Bundesgerichtshof, die Militärjustiz der NS-Zeit im Jahre 1995 als eine "Terrorjustiz" und als eine "Blutjustiz" charakterisiert hat, deren Angehörige sich eigentlich vor bundesdeutschen Gerichten "wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen"? Filbinger war einer dieser Militärrichter. Oettinger aber will ihn, wohl im vordergründigen Interesse einer bereinigten CDU-Parteigeschichte, in einen "Gegner des Nationalsozialismus" umdichten! Dabei war er nicht Sand, sondern Öl im Getriebe des NS-Staates.
Nun hat der Politiker Günther Oettinger gleich zwei Canossa-Gänge absolvieren müssen. Der eine erfolgte auf Veranlassung der instinktsicheren Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der deutschen Öffentlichkeit. Der andere, selbstgewählte, führte ihn zum Zentralrat der Juden in Deutschland, der zuvor seinen Rücktritt gefordert hatte. Völlig zu Recht hatte dessen Generalsekretär Stephan Kramer zunächst festgestellt: "Es geht nicht um die Juden als Opfer von Filbinger, sondern es geht hier um christliche Deutsche, die Opfer von Filbinger waren." Erstaunlicherweise hat nun der Zentralrat Oettinger öffentlich exkulpiert, obwohl eine Zuständigkeit für eine solche Absolution nicht erkennbar ist.

Historisch-politischer Nachholbedarf
Oettinger hat, zumindest ausweislich seiner öffentlichen Äußerungen, lediglich einen formalen Rückzug angetreten. Nach massivem öffentlichen Druck sagte er: "Ich halte meine Formulierung nicht aufrecht." Außerdem bedauere er sie. Wobei allerdings offen blieb, ob er den Inhalt seiner Rede oder deren Wirkung bedauerte. Seinem Stoßseufzer, damit sei die Sache nun aber erledigt, stimmten erstaunlicherweise auch etliche seiner Kritiker zu, die den Fall lediglich aus einer machttaktischen Perspektive betrachten. Dabei kann doch nicht erledigt sein, womit Oettinger und Teile der baden-württembergischen CDU noch gar nicht begonnen haben, nämlich ihren erkennbar gewordenen historisch-politischen Nachholbedarf zu befriedigen.
Oettinger und sein politisches Umfeld haben es bislang versäumt, sich mit dem bekanntesten Satz Filbingers auseinanderzusetzen: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein." Ein Satz, der die fundamentalen Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat und dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland verwischt. Unkundige Menschen könnten ihm entnehmen, der NS-Staat sei ein Rechtsstaat gewesen. Dabei orientierte sich die Justiz im nationalsozialistischen Staat an den Denkfiguren des Führerprinzips und der kämpfenden deutschen "Volksgemeinschaft". Die individuellen Menschen- und Freiheitsrechte galten nichts. Richtig kann daher lediglich die Umkehrung des Diktums von Filbinger sein: Urteile der NS-Unrechtsjustiz können niemals Recht sein.

Pflicht gegenüber Jüngeren
Hier ist eine bleibende historisch-politische Aufklärungsarbeit zu leisten. Nach seinen grob fahrlässigen Geschichtsverfälschungen sollte sich auch der - jetzt gerade noch einmal davongekommene - Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg in der Pflicht sehen. Er sollte den jüngeren Menschen, für die der Name Filbinger ein "böhmisches Dorf" ist, erklären, wie dieser Mann in der NS-Zeit und später gehandelt und gedacht hat. Mit der Autorität des Landesvaters sollte Oettinger nicht nur sagen, was Filbinger nicht war, sondern von ihm ein Bild zeichnen, das auf historisch gesicherten Erkenntnissen basiert. Den vielen engagierten Lehrerinnen und Lehrern aller Schulebenen reicht ein Dementi nicht aus. Sie wollen mehr wissen.
Wenn Filbinger ein Nazi war und kein Gegner des NS-Regimes, wenn er aktiv an Todesurteilen beteiligt war, gleichwohl in der Bundesrepublik Deutschland Karriere machen und es bis zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes bringen konnte, wenn er wegen Leugnungen und Beschönigungen, wegen halsstarriger Uneinsichtigkeit und verweigerten Unrechtbewusstseins seine politische Glaubwürdigkeit verlor und im Jahre 1978 von seiner eigenen Partei zum Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten gezwungen wurde, so ist das ein weit gefächerter historisch-politischer Lehrstoff. Es bedarf keiner historischen Grundlagenforschung. Man muss das vorhandene Wissen nur nutzen und anwenden.

Wolfram Wette, Professor für Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Herausgeber des Buches "Filbinger - eine deutsche Karriere", zu Klampen Verlag, Springe 2007.



Presseerklärung 17.4.07:

Oettingers Entschuldigung unglaubwürdig

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregims - Bund der Antifaschisten und Antifaschistinnen akzeptiert die Entschuldigung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günter Öttinger für seine Trauerrede für Filbinger nicht. Diese sei ja nur unter dem großen öffentlichen Druck erfolgt und unglaubwürdig, erklärte VVN-BdA-Vorsitzender Werner Pfennig.
Öttingers Hochstilisierung Filbingers zum Widerstandskämpfer sei ein so unglaublicher Vorgang, dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen könne, wie es Kanzlerin Merkel und jetzt auch der Stuttgarter Ex-Bürgermeister forderten. Öttingers Vorgänger Erwin Teufel war immer der Ansicht, dieser tauge nicht zum Ministerpräsidenten, weil er keine Prinzipien habe. Die CDU, besonders in Baden-Württemberg, sei aufgefordert, die Nazi-Vergangenheit endlich aufzuarbeiten und nicht den zunehmend dreister auftretenden Neofaschisten immer wieder Wasser auf die Mühlen zu geben, sagte Pfennig. Über die Rolle Filbingers sei nun wirklich alles bekannt bis hin zu der Tatsache, dass er sich mit Hilfe der NPD wählen ließ. Notwendig sei zum Beispiel auch, dem von Filbinger gegründeten Studienzentrum Weikersheim endlich die staatstragende Maske vom Gesicht zu reißen. Dort werde ideologische Munition für den Rechtsextremismus produziert. Die VVN-BdA halte an ihrer Rücktrittsforderung gegenüber Öttinger fest.



Presserklärung 10.5.07:

Studienzentrum Weikersheim schließen!

"Mit der Ernennung eines Mitglieds des Studienzentrums Weikersheim zur persönlichen Referentin hat Ministerpräsident Oettinger erneut seine Nähe zum rechtesten Rand der baden-württembergischen Politik - oder aber seine völlige Ignoranz gegenüber den Mindestanforderungen an einen Ministerpräsidenten in einer vom Grundgesetz geprägten Demokratie offenbart", erklärte Werner Pfennig Bundesvorsitzender und Landesprecher der VVN-BdA gestern in Stuttgart.
Nach Erkenntnissen der Verfolgtenorganisation wirkt das Studienzentrum Weikersheim schon seit seiner Gründung durch Hans Filbinger als Scharnierstelle zwischen dem rechten Rand der CDU und dem offenen Neofaschismus. Dafür sei die jüngste Einladung an den bekennenden Verehrer der Hitlerwehrmacht General Günzel, ausgerechnet zu "Führers Geburtstag" nur einer von zahlreichen Hinweisen.
Aus dem Umkreis des Studienzentrums Weikersheim rekrutiert sich nicht nur die Führung der baden-württembergischen Jungen Union. Vor Jahren ging daraus auch die Spitze der rechtsradikalen Partei "Republikaner" hervor, deren Bundesvorsitzender Schlierer zuvor Geschäftsführer in Weikersheim war.
"Mit Günther Oettinger und seiner neuen Referentin ist nun das ultrarechte Studienzentrum Weikerheim wieder mitten in der baden-württembergischen Staatskanzlei angekommen, die sein Gründer Filbinger aus gutem Grund verlassen musste", fasst Werner Pfennig die Meldungen der letzten Wochen zusammen.
Ganz offensichtlich durchdringt der rechtsradikale Weikersheimer Filz nicht nur große Teile der Landes-CDU, sondern findet gute Resonanz auch beim Ministerpräsidenten. Für die VVN-BdA kann es daraus nur zwei Konsequnzen geben:
"Den Rücktritt Oettingers und die Auflösung des Studienzentrums Weikersheim."

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