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Nummer 4 / Dezember 2006



Besuch aus Sant'Anna di Stazzema:

"Es geht um Gerechtigkeit und geschichtliche Wahrheit"

Dietrich Schulze

Die Kampagne für Gerechtigkeit für die Opfer des Massakers von Sant'Anna di Stazzema geht weiter. Die von der VVN-BdA Baden-Württemberg in den letzten Wochen gesammelten 2240 Unterschriften für eine sofortige Anklageerhebung wurden am 8. November von der Vertreterin der Opfer, Claudia Buratti, im baden-württembergischen Justizministerium übergeben

Die promovierte Juristin Claudia Buratti war in der Zeit vom 5.-8. November als Vertreterin des Opferverbandes Sant'Anna di Stazzema (l' Associazione dei Martiri di Sant'Anna) in Baden-Württemberg, um die Forderung der Überlebenden und Angehörigen der Opfer von Sant'Anna nach einem Prozess in Deutschland, den politischen Druck gegen die Verschleppung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart zu verstärken. Nach vier Jahren Ermittlungen sei es höchste Zeit, endlich Anklage gegen die SS-Täter des Massakers in Sant'Anna zu erheben. Unerträglich sei das Nichtinteresse der deutschen Justiz an einer schnellen Strafverfolgung. Es liegt die Vermutung nahe, dass es gewolltes Ziel ist, die Ermittlungen weiter zu verschleppen und zu verzögern, bis die Täter gestorben sind. Die erste Familie des Großvaters von Claudia Buratti wurde bei dem Massaker ausgelöscht. Claudia hat in Italien von Anfang an das Verfahren gegen die Mörder verfolgt und ihre Doktorarbeit in Jura über den Sant'Anna-Prozess geschrieben. Das hat sie als Vermächtnis und Pflicht gegenüber ihrem Großvater empfunden.
Sie sprach mit der 11. Klasse des Karlsruher Bismarck-Gymnasiums; mit Oberstaatsanwalt Schrimm, dem Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, und übergab im Justizministerium Baden-Württemberg die von der VVN-BdA gesammelten Unterschriften. Dazu kamen zwei Abendveranstaltungen in Karlsruhe und Ludwigsburg sowie Interviews mit den Lokalzeitungen Badische Neueste Nachrichten und Ludwigsburger Kreiszeitung. Im Fernsehen berichtete R-TV über den Schulbesuch und der SWR über die Unterschriftenübergabe.
Inzwischen wurde das Urteil des Militärgerichts von La Spezia, gegen das die verurteilten SS-Täter Alfred Mathias Concina, Karl Gropler, Georg Rauch, Horst Richter und Gerhard Sommer Revision eingelegt hatten, durch das Militärgericht in Rom bestätigt. Dass bis heute in Deutschland keine Anklage erhoben wurde, ist für die Opfer von Sant'Anna ein Schlag ins Gesicht.



Interview mit Claudia Buratti:

"Wie ist es möglich, dass es noch keine Anklage gibt?"

VVN-BdA: Die letzte Station Deiner Reise - die Unterschriftenübergabe an den Amtsleiter von Justizminister Goll - hast Du gerade hinter Dir. Wie beurteilst Du die Ergebnisse Deiner Rei-se?
Buratti: Der Opferverband Sant'Anna war glücklich über die Einladung in dasjenige Bundesland, in dem die staatsanwaltlichen Ermittlungen zu dem Massaker geführt werden. Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis und denke, dass ich den Auftrag meines Verbandes erfüllen konnte.
VVN-BdA: Welches Erlebnis hat Dich am meisten beeindruckt?
Buratti: Die Reaktion der Schüler des Gymnasiums, aber auch die große Zahl an gesammelten Unterschriften.
VVN-BdA: Könntest Du etwas genauer sagen, was Du mit der Schülerreaktion meinst? Buratti: Ich denke dabei besonders an die Reaktion eines Schülers, der fragte, wie es möglich ist, dass die deutsche Justiz bei einem derartigen Menschheitsverbrechen immer noch zu keiner Anklage gekommen ist.
VVN-BdA: Die SS hat die Aktion als Vergeltung für Partisanenangriffe bezeichnet. Was sagst Du dazu?
Buratti: Im Prozess vor dem Militärgericht in La Spezia ist das widerlegt worden. Die Partisanen hatten das Gebiet einige Tage vorher wegen hoher Verluste verlassen. Das Massaker diente der Abschreckung der Zivilbevölkerung. Selbst gesetzt den Fall, es hätte sich um eine Vergeltung gehandelt, so wäre diese nach geltendem Kriegsrecht (Haager Landkriegsordnung) völlig unverhältnismäßig gewesen. Die Ermordung von minderjährigen Kindern verstößt in jedem Fall gegen das Kriegsrecht.
VVN-BdA: Welche Bedeutung hatte und hat der Partisanenkampf?
Buratti: Der Partisanenkampf für die Befreiung ist Grundlage der italienischen Verfassung. Sie wurden von niemandem gezwungen, den opferreichen Kampf gegen die deutschen Besatzer zu führen. Sie haben das aus freien Stücken für die Bevölkerung und ihre Heimat getan.
VVN-BdA: Die in La Spezia verurteilten Waffen-SS-Täter berufen sich allesamt auf einen Befehlsnotstand. Wären sie selber bestraft worden, wenn sie sich geweigert hätten?
Buratti: Das Gericht in La Spezia hat festgestellt, dass der Soldaten nach dem damals geltenden deutschen Militärgesetzbuch für die Befolgung des Befehls grundsätzlich nicht verantwortlich war, es sei denn, dass der Befehl eine offensichtlich kriminelle Handlung beinhaltete. Nach Ansicht des Gerichts konnte im Falle Sant'Anna jeder Soldat ohne weiteres erkennen, dass seine Handlung nicht anders als kriminell einzustufen ist. Und im Gericht wurde weiter ausgeführt, dass in Bezug auf das Massaker von Sant'Anna keine Fälle bekannt sind, wo Soldaten im Falle einer Befehlsverweigerung bestraft worden wären.
VVN-BdA: Eine der unglaublichsten Zeugenaussagen war, dass die SS-Soldaten nach ihrer Tat singend mit Harmonikabegleitung in ihren Standort zurück marschiert sind...
Buratti: ... was neben anderen Fakten den rassistischen Charakter des Massakers belegt. Die Waffen-SS-Einheit war aus Himmlers Wachbataillon und aus SS-Totenkopfverbänden hervorgegangen. Die Historiker Carlo Gentile und Gerhard Schreiber haben darauf hingewiesen, dass mehrere Kommandeure der Einheit im KZ Dachau und anderen KZs im rassistischen NS-Geist geschult worden sind.
Tatsache ist aber auch, dass die Einheit später mit Nichtfreiwilligen aufgefüllt wurde. Und berichtet werden muss, dass es auch andere Soldaten gab. Enio Mancini [1] zum Beispiel hat sein Leben einem jungen Waffen-SS-Soldaten zu verdanken, der die ihm zur Erschießung zugeteilte Gruppe von Sant'Anna-Bürgern laufen ließ und zum Schein auf ein Schafsherde schoss, um seine Befehlstreue glaubhaft zu machen.
Was allerdings die zehn Angeklagten betrifft, sagte der Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer: Keiner von ihnen könne in Anspruch nehmen, als "ehemaliger" SS-Soldat bezeichnet zu werden, weil keiner glaubhaft Reue gezeigt habe.
VVN-BdA: Die Akten über Sant'Anna waren 6 Jahrzehnte unter Verschluss. Wieso und wer waren die treibenden Kräfte für die Aufdeckung?
Buratti: Die Akten wurden in den 1950er Jahren im so genannten "Schrank der Schande" eingeschlossen, um dem NATO-Partner Bundesrepublik Deutschland als vorderster NATO-Linie gegen den Osten keine Schwierigkeiten zu bereiten. Es gab auch ein eigenes Motiv: Die Verbrechen der italienischen Faschisten hätten dann gegenüber ähnlichen Forderungen aus Äthiopien oder Jugoslawien nicht mehr unter der Decke gehalten werden können. Als 1951 der u.a. wegen des Sant'Anna-Massakers angeklagte Reder [2] frei gesprochen wurde, haben die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer nicht mehr daran geglaubt, dass ihnen Gerechtigkeit zuteil werden wird. Erst 1994 im Verlaufe des Priebke-Prozesses [3] ist bekannt geworden, dass es überhaupt Akten gibt. Seit dieser Zeit hat der Opferverband unablässig Druck gemacht. Schwung in die Sache kam allerdings erst, als Staatsanwalt Marco de Paolis seine Tätigkeit aufnahm.
Der in Deutschland ermittelnde Staatsanwalt Bernhard Häußler war vor drei Jahren in Sant'Anna. Die Lokalzeitung "Corriere della Versilia" titelte zu dessen Aussagen gegenüber den lokalen Verantwortlichen am 25.11.2003: "Wir werden für Gerechtigkeit sorgen" und "Wir werden die Wahrheit aufdecken".
VVN-BdA: Bis heute ist aber nichts geschehen, was dieser Versicherung entsprechen würde ...
Buratti: ... im letzten Jahr ist jedoch in La Spezia aus der Hoffnung auf Gerechtigkeit ein Stück Wirklichkeit geworden. Es ist nun an Justizminister Goll, seinen Einfluss geltend zu machen, dass der Gerechtigkeit auch in Deutschland Genüge getan und der Prozess in Stuttgart eröffnet wird.
VVN-BdA: Was ist das Hauptanliegen des Opferverbands?
Buratti: Das Verbrechen von Sant'Anna und die Schuld der Täter soll in der Bundesrepublik bekannt werden. Es geht um die Aufdeckung der geschichtlichen Wahrheit und um Gerechtigkeit.
VVN-BdA: Du hast gerade mit Enio Mancini telefoniert. Kannst Du uns sagen, wie er auf die Ereignisse hier in den letzten drei Tagen reagiert hat?
Buratti: Er war gerührt und hat sich sehr über die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit gefreut. Er sagte, dass er jetzt mit noch mehr Energie den Revisionsprozess [4] vor dem Militärgericht in Rom am 21. November verfolgen wird.
VVN-BdA: Claudia, wir bedanken uns sehr für Deine überzeugenden Beiträge und bei Gabriella für die kompetente Übersetzung.

Das Interview führte Dietrich Schulze / Übersetzung Gabriella Guidi und Matteo Bellizzi

Anmerkungen:
[1] Enio Mancini, einer der wenigen Überlebenden des Massakers, ist Mitglied des Leitungskomitees des Opferverbandes Sant'Anna.
[2] Walter Reder, SS-Sturmbannführer, Kommandeur verschiedener SS-Totenkopfverbände, zuletzt Kommandeur der SS-Panzer-Aufklärungsabteilung 16 der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS". Er ist verantwortlich für das Massaker von Marzabotto, bei dem im Herbst 1944 mehr als 800 Zivilisten ermordet wurden. Er hat die Exekution von 2700 italienischen Zivilisten in der Emilia Romagna und der Toskana, darunter Sant'Anna di Stazzema, befohlen.
[3] Erich Priebke, SS-Hauptsturmführer, war beteiligt am Massaker im März 1944 in den Adreatinischen Höhlen bei Rom, bei dem 335 männliche Geiseln ermordet wurden.
[4] Sieben der zehn in La Spezia verurteilten Waffen-SS-Täter haben Revision eingelegt. Der Revisionsprozess findet am 21.11.2006 vor dem Militärgericht in Rom statt.



Abscheuliches NS-Kriegsverbrechen:

560 Märtyrer klagen an!

Am 12. August 1944 wurden in dem italienischen Dorf Sant'Anna di Stazzema in der Toskana 560 Menschen von Angehörigen der 16. Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" ermordet. Dem Massaker fielen nicht nur die Mehrheit der Dorfbevölkerung zum Opfer, sondern auch Hunderte von Flüchtlingen, die im August 1944 in dem abgelegenen Bergdorf Schutz vor den Luftangriffen der Alliierten suchten. Die Opfer dieses Blutbades waren fast ausschließlich Frauen, Kinder und ältere Menschen, sie wurden erschlagen, erschossen und verbrannt.
Claudia Buratti berichtete Einzelheiten dieses grauenhaften Massakers an der Zivilbevölkerung: Gegen 6.00 Uhr umzingelten vier Kolonnen der Waffen-SS das Dorf Sant'Anna, von drei Seiten aus über die nahen Berghänge. Von der vierten Seite her wurde die Dorfstraße abgesperrt, um die Flucht zu verhindern. Um 6.30 Uhr begann das Massaker. Die SS ließ das Vieh aus den Ställen treiben, zwang die Menschen hinein und verriegelte die Türen. Plötzlich sperrten sie die Türen wieder auf und eröffneten das Maschinengewehrfeuer auf die Opfer. Dann warfen sie Handgranaten hinein, häuften Heu auf die Niedergeschossenen, von denen einige noch am Leben waren, und zündeten die Menschen an. Der Großvater von Claudia Buratti verlor bei diesem Massaker seine Mutter Teresa (60 Jahre), seine Ehefrau Guglielma (39 Jahre) und zwei Kinder, Nara (12 Jahre) und Bruno (9 Jahre). Das Mädchen Nara konnte sich noch schwer verbrannt durch den Wald zur nahen Wohnung ihrer Großmutter schleppen, zwei Tage später starb sie im Krankenhaus. Der zehnjährige Enrico Pieri verlor Vater, Mutter, Geschwister, insgesamt 25 Familienangehörige. Seine kleine Schwester Luciana war 5 Jahre alt, als sie vor seinen Augen an den Füßen gepackt und solange mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen wurde, bis der Schädel zertrümmert war. Enrico Pieri ist heute Vorsitzender des Vereins der Opfer von Sant'Anna. Auf dem Platz vor der Dorfkirche von Sant'Anna wurden Frauen und Kinder zusammengetrieben, sie knieten betend nieder und wurden mit Maschinengewehren niedergemäht. Die Mörder schichteten die hölzernen Kirchenbänke auf die Leichen und zündeten sie mit Flammenwerfern an. Noch am folgenden Tag war der Geruch des verbrannten Fleisches unerträglich. Die schrecklichste Erinnerung eines weiteren Zeugen, Elio Duaff, der nach dem Massenmord in das Dorf zurückkehrte, ist, wie er in einem Haus eine junge Frau bemerkte, die noch zu leben schien. Sie sollte gerade an diesem Tag ihr Kind gebären, die Wehen hatten begonnen. Doch die Frau war tot, ihr war der Bauch aufgeschlitzt worden. Das noch nicht geborene Kind lag auf dem Küchentisch, noch mit der Nabelschnur verbunden, extra mit der Maschinenpistole erschossen. Seitdem war Duaff nie wieder in Sant' Anna gewesen. Augenzeugen berichten, dass die SS-Soldaten nach ihrer abscheulichen Tat singend und musizierend aus dem Dorf abmarschiert seien.



Zerstörte Hakenkreuze:

Gleicher Staatsanwalt - kein Zusammenhang

Bei der Übergabe der Unterschriften im Justizministerium betonte Amtschef Justizministerium Michael Steindorfner im Namen Justizmisters Goll, dass die baden-württembergische Justiz das Verfahren mit Nachdruck betreiben werde. Auch das Justizministerium habe ein starkes Interesse daran, dass ein Verfahren eröffnet werde. Den Verdacht einer Verschleppungstaktik der Stuttgarter Staatsanwaltschaft wiesen die Vertreter des Ministeriums aber entschieden zurück.
Gereizt reagierten sie insbesondere auf den Hinweis, dass der zuständige Staatsanwalt Häußler zwar in der Sache Sant'Anna seit Jahren ergebnislos ermittle, mit großem Eifer, in kurzer Zeit und mit durchschlagendem Erfolg aber reihenweise Antifaschisten wegen des Tragens durchgestrichener oder gespaltener Hakenkreuze drangsaliert und kriminalisiert. Einen Zusammenhang zwischen der Verfolgung von Antifaschistischen und der ergebnislosen Ermittlung gegen Nazi-Mörder kann man im Ministerium nicht erkennen.



Medaille für VVN-Bund der Antifaschisten Baden-Württemberg

Claudia Buratti überreichte der VVN-Bund der Antifaschisten Baden-Württemberg eine Medaille des Vereins "Martiri di Sant'Anna" als Dankes- und Vertrauensgeste für die Bemühungen, die Anklage gegen die SS-Täter vor ein deutsches Gericht zu bringen. Die Medaille wurde vor 15 Jahren vom Künstler Ernesto Treccani geschaffen und wird Persönlichkeiten und Gruppen zuerkannt, die sich um Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit im nationalen und internationalen Bereich verdient gemacht haben.

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