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Nummer 4 / Dezember 2006



Peter Gingold, einer der weiter lebt:

Ich baue auf Euch - bleibt höllisch wachsam!

Peter Gingold

Am 28. Oktober verstarb nach schwerer Krankheit unser Bundessprecher, Freund und Weggefährte Peter Gingold. Anstelle eines Nachrufes, drucken wir die Rede, die Peter am 14. Juli 2003 in Schwäbisch Hall auf der Demonstration gegen den Naziaufmarsch anlässlich der Wehrmachtsausstellung hielt.

Seid allemal herzlich gegrüßt. Ihr seid hierher gekommen, um den Neonazis keinen Fußbreit Boden in dieser Stadt zu überlassen.
Lasst mich als erstes dafür Dank sagen. Dank sagen an euch alle, die ihr deshalb auch hierher gekommen seid. Ich sage es im Namen von Überlebenden, von Überlebenden der Verfolgten des Naziregimes und des Widerstandes. Ich sage es zu denen, die nur mit viel Glück der Nazihölle entronnen sind, zu denen ich gehöre. Und wir haben alle überlebt mit dem einzigen heiligen Vorsatz: "In diesem Land nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg!" Und wer hätte sich 1945 auch nur vorstellen können, in diesem Land, nach dem was hinter uns lag, ein Meer von Blut und Tränen, Verwüstung und Vernichtung, Millionen und Abermillionen ermordet. Wer hätte 1945, als wir überlebt haben, auch nur ahnen können, erwarten können, dass es hier jemals wieder Naziaufmärsche gibt, dass jemals wieder Nazismus, Rassismus und Antisemitismus in diesem Land aufleben könnten. Und für mich, für einen Überlebenden, wäre es eine Sache der hoffnungslosen Verzweiflung, wenn wir und ich nicht trotzdem diese Gegenaktion, vor allem der jungen Menschen, erleben, wie heute dieses Bündnis in dieser Stadt hierher zusammengekommen ist. Und darum, darum auch seid einmal herzlich gegrüßt.
Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht haben die Neonazis zum Anlass ihrer heutigen Zusammenrottung genommen mit ihren Parolen "Unsere Soldaten waren keine Mörder", mit ihrer verleumderischen Behauptung, die Ausstellung beleidige die Generation von Wehrmachtsangehörigen, 19 Millionen deutsche Soldaten seien als Verbrecher angeklagt. Damit wollen sie in den deutschen Familien Emotionen schüren. Gibt es doch kaum eine deutsche Familie, die nicht einen Großvater oder Urgroßvater oder Onkel oder Uronkel haben, der die Wehrmachtsuniform trug. Also kein Wunder, dass die Neonazis sich nicht die Chance nehmen lassen, die Emotionen zu schüren und aus den Emotionen mancher Menschen Kapital zu schlagen. Aber wer die Ausstellung sah, weiß, dass sie nicht die 19 Millionen Wehrmachtsangehörigen als Verbrecher anklagt, sondern den Krieg! Dass dieser Krieg ein Verbrechen war, mit unsagbaren Gräueltaten, die mit der Wehrmacht natürlich begangen wurden. Der millionenfache Mord an unschuldigen Zivilisten, an Frauen und Kindern, auch an sowjetischen Kriegsgefangenen, auf Anweisung der Wehrmachtsführung, die nicht für Arbeit verwendet werden, sie einfach verhungern zu lassen. Drei Millionen gnadenlos zu Tode verhungert! In einer Fernsehserie mit dem Titel "Soldaten für Hitler" sagte der ehemalige Unteroffizier Josef Kurz mit zitternder Stimme in die Kamera: "Millionen Menschen haben ungeheuerlich viel geleistet - aber wofür? Damit hinter unserem Rücken die Konzentrationslager weiter bestehen bleiben konnten, dass 6 Millionen Juden vernichtet werden konnten. Das ist das, womit ich nicht fertig werde." Soweit sein Zitat. Mein damals zweijähriges Kind musste ich verstecken, um es vor der Vernichtung zu retten. Fast meine gesamten Verwandten, mein Bruder, meine Schwester sind ausgerottet. Und mein eigenes Überleben und das meiner Frau habe ich nur dem Umstand zu verdanken, dass wir am Widerstand haben teilnehmen können, sozusagen im Untergrund. Und es war doch die Wehrmacht, die den Raum eroberte, um ihn zur Abschlachtung der Juden und der Sinti und Roma aus ganz Europa preiszugeben und dies abzusichern. Und die Todesfabriken wie Auschwitz konnten nur so lange funktionieren, solange die Front gehalten wurde, und das ist sogar ein Ausspruch von dem ehemaligen Arbeitsminister der CDU Norbert Blüm. Sagte mir doch mal jemand, als ich in der Wehrmachtsausstellung war und dort eine Führung hatte, ein ehemaliger Wehrmachtssoldat: "Na ja, in jedem Krieg geschieht das Verbrechen. Und Gräueltaten auch an Unschuldigen, das stimmt wohl, das passiert wohl, das ist immer in jedem Krieg der Fall." Aber der Unterschied, dass es sich diesmal nicht um irgendeine Begleiterscheinung des Krieges gehandelt hat, sondern um ein von der Naziregierung und von der Wehrmachtsführung angeordnetes organisiertes Verbrechen, wie es noch nie in der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben hat. Das muss heute jeder wissen, auch wer von seinem Großvater oder Urgroßvater überzeugt ist, dass er anständig gekämpft hat. Heute muss jeder wissen, wofür er damals missbraucht worden ist. Gehörte ich doch auch damals in dieser Zeit zu denen, die mit Flugblättern und in ständiger Todesgefahr die Soldaten und Offiziere aufriefen, sich nicht für die Verbrechen missbrauchen zu lassen, mit Hitler und seinem verbrecherischen Krieg Schluss zu machen. Ach ja, da hatten wir wirklich wenig erreicht. Und was wäre an Leben gerettet worden, wenn einige, und nicht nur einige, sondern viele unsere Hinweise damals befolgt hätten. Denn die Wehrmacht war die wichtigste Stütze des Naziregimes. Denn ohne die Wehrmacht hätte nichts, aber auch nichts von Hitlers Vernichtungspolitik verrichtet werden können.
Und dass es heute Neonazis gibt, die den Krieg und die Wehrmacht verherrlichen und gegen die Ausstellung demonstrieren, ist nicht so sehr der eigentliche Skandal. Ach die Neonazis, so was wird es ja immer geben, solange nach Bert Brecht der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch. Also solange gesellschaftliche Bedingungen herrschen, die sie immer wieder hervorbringen, die also die "Deutschland den Deutschen!", "Ausländer raus!" gröhlenden und völkisch rülpsenden, glatzköpfigen Brüllaffen immer wieder hervorbringen. Der eigentliche Skandal, der so zum Himmel stinkt, dass die da droben es nicht mehr aushalten, der eigentliche Skandal besteht doch darin, dass sie aufmarschieren dürfen, staatlich geschützt aufmarschieren dürfen und mit dem Segen des obersten Verwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts, entgegen dem von der Geschichte diktierten antinazistischem Verfassungsgebot. Das ist der Artikel 139. Und auf die Verfassung sind sie doch alle vereidigt, die Minister, die Richter, alle Beamten, die Polizei, sie sind doch auf die Verfassung vereidigt, und die Verfassung verbietet, dass es wieder Neonazismus gibt, dass sie sich organisieren können, dass sie in Millionenauflage und auch im Internet dieses Gift in die Bevölkerung immer wieder bringen können, das zum schändlichsten, blutigsten, entsetzlichsten Kapitel deutscher Geschichte geführt hat. Das ist doch der Skandal, dass sie es dürfen! (Beifall) als wäre aus dem Gedächtnis dieses Kapitel deutscher Geschichte ausgelöscht. Ich habe es erlebt, wie mit einem solchen Demokratieverständnis die Weimarer Republik untergegangen ist und der Faschismus an die Macht kam, wie es endete mit Tod und Blut, mit Untergang, Verwüstung, Vernichtung und mit furchtbarem Sterben in der Feuerwalze des Krieges. Ich weiß, wovon ich spreche. Zuerst waren sie auch nur eine kleine Splittergruppe, als ich sie erlebt habe, als ich 15 Jahre alt war, in der Weimarer Republik, als ich aus der Schule kam und eine Lehrstelle suchte, mit mir Zehntausende aus der Schule entlassen, die keine finden konnten. Eine riesige Arbeitslosigkeit von bald 6 Millionen, die Bauern, Handwerker, kleine Geschäftsleute ruiniert, Not und Elend überall und auch in meiner Familie. Das war die Stunde des Faschismus. Da fielen Millionen Wähler auf die Scheinlösungen der Rattenfänger herein: Für alles Elend einen Sündenbock, der Jude an allem schuld! Der Jude unser Unglück! Jeder weiß, wer heute der Sündenbock ist. Denn damals waren es die Juden, heute sind es die Ausländer. "Ausländer raus!" " Jeder Deutsche einen Arbeitsplatz!" So einfach ist das, und viele fallen auch heute wieder darauf rein. Das ist bereits zum Teil übernommen von rechtsstehenden konservativen Parteien.
Und 14 Millionen wählten damals Hitler, und dann hatte eine Massenmörderbande die Regierungsgewalt, das staatlich organisierte Verbrechertum gegen Frieden und Menschlichkeit. Und dann war den Deutschen der Rassenwahn beigebracht worden, dass sein Blut wertvoller sei als das der anderen, so dass jeder Dorftrottel stolz sein konnte, ein Deutscher zu sein. Und dann hatte der Deutsche zu lernen, Menschen so genannten minderwertigen Blutes mitleidlos zu quälen, zu foltern, zu versklaven, zu töten, zu morden, sich verbrecherisch gegenüber anderen Völkern zu verhalten, als sei es das natürliche Vorrecht einer Eliterasse. Dann war eine Nation mit ganz normalen Menschen in der Lage, sechs Millionen Juden und eine halbe Million Sinti und Roma auszurotten, wie man Ungeziefer ausrottet. So weit war es dazu gebracht. Das alles geschah in den eroberten Gebieten unter der Protektion der Wehrmacht, auf die Schlachtfelder getrieben bis nach Stalingrad. Mir klingt es heute noch in den Ohren: " Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt, und wenn alles in Scherben fällt". Ein Meer von Blut und Tränen, das war ihre Hinterlassenschaft, als die Wehrmacht kapitulierte. Und ich sage: Wir hatten zuviel an Not und Tod, Verwüstung und Vernichtung, an KZ-Qualen, an millionenfachem Mord hervorgebracht, als dass wir je wieder ihre Nachfolger aufmarschieren lassen! Vergesst nie unsere bitterste Erfahrung! Sie kamen nicht an die Macht, weil sie stärker waren als ihre Gegner. Die Gegner, wir waren damals stärker, alle zugenommen. Und der 30. Januar 1933 hätte nie stattfinden können, wenn wir uns damals alle zusammengefunden hätten. Und was hätten wir uns alles ersparen können! Und dass es meiner Elterngeneration nicht gelungen ist, alle zusammenzubringen, dafür gibt es für sie nur eine einzige Entschuldigung. Sie hatten nicht die Erfahrung, was es heißt, wenn sie jemals an der Macht sind. Aber heute haben wir die Erfahrung. Heute zählt für keine Generation mehr diese Entschuldigung. Heute muss jeder wissen, was Faschismus bedeutet, wir alle nachkommenden Generationen. Darum war ja der Faschismus verboten, grundgesetzlich verankert, Artikel 139. Und hier steht es, mein Kollege hat es vorhin schon gesagt: "Der Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!" Und ein Verbrechen muss bekämpft werden und keine Freiheit zugestanden werden. Denn das ist Einschüchterung und Gewalt am Anfang, Totschlag und Massenmord am Ende. Also Schluss mit einer Politik, sage ich einmal, die die Nazis ermuntert und fördert! Und dass sie heute aufmarschieren können, ist eine Ermunterung und eine Förderung der Nazis! Und wer sie mit dem Hinweis verharmlost, auch in anderen Ländern gibt es Neonazismus, Rassismus, Antisemitismus, ohne dass dort Panik ausbricht. Wohl wahr, Le Pen in Frankreich, Berlusconi in Italien, in Belgien, in England, in den USA. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied, wenn es bei uns das gibt, wenn Nazismus, Rassismus in Erscheinung treten. Denn hier riecht es nach Gas. Denn Auschwitz hat es doch nicht irgendwann gegeben, vielleicht in der Steinzeit, und Auschwitz gab es doch nicht irgendwo, vielleicht in Zentralafrika. Hier in jüngster deutscher Geschichte gab es Auschwitz. Und darum ist jeder gefordert, aufzutreten und aufzuschreien, wo immer irgendwie Rassismus, Nazismus und Antisemitismus in Erscheinung tritt. Es gibt kein anderes Volk auf dieser Erde, das so dazu verpflichtet ist, anhand der deutschen Geschichte, wie gerade das deutsche Volk. Einen Aufschrei muss es immer wieder geben: Das lassen wir nicht mehr zu! Und der Aufschrei muss millionenfach sein! Das dürfen wir nie wieder zulassen! Nie wieder für ein Verbrechen sich missbrauchen zu lassen! Und meine Hoffnung ist: Ich baue auf eine Jugend, ich baue auf euch, die ihr heute hierher gekommen seid, ich baue auf euch und auf die Jugend, deren Vorbilder nicht die kämpfenden Soldaten an der Ostfront sind, sondern deren Vorbilder die Frauen und Männer des antifaschistischen Widerstands sind, deren Schwur hier heute vorgelesen wurde. Darum: Nie wieder! Nie wieder! Bleibt höllisch wachsam! Versucht, alle, egal welch politischer Anschauung, religiöser Auffassung, aus unserer Erfahrung zusammenzubringen, damit es nie wieder zu einem solchen schrecklichen entsetzlichen blutigsten Kapitel kommt, wie ich es habe durchleben müssen. Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.

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