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Nummer 1 / Januar 2006



Thesen zu Peter Scherers Referat "Der neue Absolutismus des Kapitals …"*

Neuer Faschismus? Eine aufhaltbare Gefahr!

Anne Rieger

In seinem viel beachteten und diskutierten Gastreferat *) auf dem Bundeskongress vertrat Peter Scherer die Position, "Die Wiederkehr einer faschistischen Diktatur vom Typus der deutschen zwischen 1933 und 1945 ist auf absehbare Zeit (und das heisst auf Generationen hinaus) nicht möglich". Mit der Begründung: "Der deutsche Faschismus formierte sich wie der italienische, sein Vorbild, aus der Abwehr der großen 1917 in Russland einsetzenden und 1918 auf Deutschland übergreifenden revolutionären Bewegung. Er war das politische System der Gegenrevolution ... Wo es aber keine revolutionäre Bewegung gibt, gibt es auch keinen Boden für eine konterrevolutionäre Diktatur ... das Kapital war noch nie so mächtig wie heute." Im Rahmen einer Diskussion im Landesvorstand der VVN-BdA hat Landessprecherin Anne Rieger dazu 4 Gegenthesen dargelegt.

1. Griff nach der Weltmacht
Der Faschismus diente dem deutschen Kapital in erster Linie dazu, seinen Aufstieg zur Weltmacht mit militärischer Aggression durchzusetzen. Zunächst sollten die Ergebnisse des ersten Weltkrieges, wie sie im Versailler Vertrag festgeschrieben wurden, rückgängig gemacht werden (Verluste von Territorien, Bevölkerung und sämtlichen Auslandskapitalien, Ressourcen- und Produktionsverminderung, Reparationszahlungen, Rüstungsbeschränkungen u.a.). Darauf aufbauend sollten dann in einem zweiten Anlauf mit dem Mittel der militärischen Aggression noch über die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland hinausgehende Weltherrschaftspläne realisiert werden"
Dazu ein Blick in die Geschichte: Im 19. Jahrhundert waren die deutschen Unternehmer bei der Verteilung der Welt, den Kolonien, im ökonomischen Konkurrenzkampf zu spät gekommen. Die Verteilung und Beherrschung der Welt erfordert den Rückhalt und den Einsatz einer starken Staats- und Militärmacht. Erst nachdem die Reichseinheit 1871 hergestellt war, waren die Grundlagen dafür gelegt.1914 griff Deutschland die traditionellen Kolonialmächte an. Der erste Weltkrieg war als weitreichender Eroberungskrieg konzipiert, ein Versuch, erhebliche Teile der europäischen Länder und Völker dem deutschen Reich zu unterwerfen. Diese Konstellation war die Hauptursache 1914 für den Ersten Weltkrieg und hatte sich danach nicht grundsätzlich geändert.
Deutschland wurde 1918 besiegt, geschwächt, aber sein Potential als Großmacht war geblieben. Ende der zwanziger Jahre hatte es wieder den ersten Rang in der Industrieproduktion erreicht. Die Führungsschichten aus Großindustrie und -agrariern, Militär und Bürokratie hatten ihre Machtpositionen im wesentlichen behauptet. Erhebliche Teile von ihnen wollten die Niederlage von 1918 nicht hinnehmen und suchten nach Möglichkeiten, doch noch den Aufstieg zur Weltmachtgeltung zu realisieren.

Der Traum vom Osten
Kaum waren die Toten des Weltkrieges begraben, wurde Krieg wieder zur Option. Wie sich die Situation aus der Sicht führender Unternehmer darstellte, illustriert eine Beschreibung über den Großindustriellen Stinnes, aus dem politischen Tagebuch des Chefs der Westeuropäischen Abteilung des amerikanischen Außenministerium, des Diplomaten W.R. Castle vom 19.11.1922: "Die Vision von Stinnes reicht weit. Er sieht, wie der Weg gen Osten sich wieder öffnet, das Verschwinden von Polen, die deutsche wirtschaftliche Ausbeutung von Russland und Italien. Seine Absicht ist friedlich und auf Wiederaufbau gerichtet. Wird sie nicht vielleicht doch zu einem neuen Krieg führen, falls wir und der Rest der Welt nicht gewillt sind, uns unter deutscher Oberherrschaft zu begeben? ... Der stärkste Mann in Deutschland scheint mir Stinnes, wie ich aus unserem langen Gespräch entnehme, einer der wahrhaft gefährlichen Männer der Welt ... " (Kühnl, R. Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1975, S. 58 ff).
Ein Geheimpapier der Reichswehr forderte bereits 1926 die Aufstellung eines Kriegsheers von 102 Divisionen, also rund 2,8 Millionen Soldaten. Der Wiederaufstieg Deutschlands zur führenden Macht auf dem europäischen Kontinent sollte sich nach diesen Plänen in zwei Etappen vollziehen: Zuerst die Niederschlagung Frankreichs, dann der Kampf gegen die "angelsächsischen Mächte". 1931 erklärte der Vorsitzende des Reichsverbandes der deutschen Industrie Carl Duisberg: "Was wir brauchen ist ein europäischer einheitlicher Wirtschaftsraum von Bordeaux bis Odessa."
Im Entwurf einer Rede von Krupp, die er Ende 1943 oder Anfang 1944 vor der Deutschen Akademie in Berlin halten wollte, zeigt er die Beteiligung der Rüstungsindustrie an diesen Plänen: "Ich sehe also nicht ein ... wieso die Fabrikation von Kriegsmaterial ein finsteres Gewerbe sein soll! Nein: Kriegsmaterial ist lebenssparend für das eigene Volk und stolz darf sein, wer auch immer in diese Sphäre werkt und wirkt; das Unternehmertum zumal findet hier seinen höchste Bewährung. Diese Bewährung - ich darf das hier einflechten - erhärtete sich besonders auch in jener Zeit des "Interregiums", in den Jahren zwischen 1919 und 1933, als Deutschland entwaffnet darniederlag. ... Es ist ein einmaliger Verdienst der gesamten deutschen Wehrwirtschaft, daß sie in diesen bösen Jahren nicht untätig gewesen ist, mochte ihre Wirksamkeit auch aus erklärlichen Gründen dem Lichte der Öffentlichkeit entzogen sein. In jahrelanger stiller Arbeit wurden die wissenschaftlichen und sachlichen Voraussetzungen geschaffen, um zu gegebener Stunde ohne Zeit- und Erfahrungsverlust wieder zur Arbeit für des Reiches Wehrmacht bereit zu stehen. ... So wie damals ein 100 000-Mann-Heer die Tradition der alten ruhmreichen Armee wahrte, so gab es, bildlich gesprochen, auch ein 100 000-Mann-Heer der Wirtschaft, das die Überlieferung der Rüstungsindustrie aufrechterhielt. ... Nur durch diese verschwiegenen Tätigkeit deutschen Unternehmertums, ... konnte nach 1933 unmittelbar der Anschluß an die neuen Aufgaben der Wiederwehrhaftmachung erreicht ... werden ... . Da galt es, neue Rohstoffe zu erschließen, zu forschen zu experimentieren, Kapitalien zu investieren, um die deutsche Wirtschaft unabhängig und stark, kurz gesagt: kriegsstark zu machen." (Hörster-Philipps, U.: Großkapital und Faschismus 1918 -1945, Dokumente, Köln 1981, S. 263 f., Hervorhebung, die Autorin).

Der zweite Anlauf
Kontinuierlich also, seit dem Ende des ersten Raubkrieges, wurde die militärischen Aggressionspläne von Industrie und Militär verfolgt. Als dann die Weltwirtschaftskrise kam, war klar, Deutschlands Aufstieg der Industriellen, Agrarier und Militärs konnte nur gelingen, wenn mit militärischer Aggression der Zugriff auf Ressourcen, billige Arbeitskräfte und Märkte erfolgen würde. Die Kosten dafür sollten auf die abhängig Beschäftigten und sozial Schwachen abgewälzt werden. 1929 fordert der Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI) in seiner Denkschrift "Aufstieg oder Niedergang": "Ausgangspunkt für alle Maßnahmen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist unter den für die deutsche Wirtschaft gegebenen Umständen die Förderung der Kapitalbildung." Ab da wurde Hitlers Partei mächtig finanziert und sie führte de lang geplanten Aggressionskrieg.
Verfolgt man die heutigen politischen und ökonomischen Anstrengungen der herrschenden Industrievertreter, Deutschland und Europa aufzurüsten, und hochmobile Interventionskräfte zu schaffen, die "Deutschland am Hindukusch verteidigen sollen", scheint die Option, Kriege um Ressourcen, Märkte und verfügbare billige Arbeitskräfte zu führen, nicht aus der Welt zu sein. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Enkelorganisation des RDI, fordert in ihrem Gesamtreformkonzept "Für ein attraktives Deutschland - Freiheit wagen - Fesseln sprengen": "Demzufolge ist die Transformation der Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungsarmee hin zu hochmobilen Krisen-Interventionskräften zwingend erforderlich. ... Um insbesondere die staatlichen Investitionen für Verkehr, für die Zukunftsaufgaben in Bildung und Forschung und für Verteidigung deutlich zu steigern, müssen die konsumtiven Ausgaben des Staates drastisch reduziert werden. Das betrifft neben den Sozialausgaben und den Subventionen auch die Personalausgaben des Staates." (4.2.2004). Ob für diese Option geplant ist, die Karte Faschismus an der Macht, zu ziehen, können wir heute nicht sagen. Aber ausgeschlossen ist sie nicht, wenn wir ihn nicht verhindern.

2. Projekt der Gegenaufklärung
Der Faschismus ist ein Projekt der Gegenaufklärung, das sich gegen alle emanzipatorischen Bestrebungen, alle bürgerlich demokratischen Errungenschaften wendet, wie sie in der französischen Revolution erstmals durchgesetzt wurden und in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zum Ausdruck kamen: "Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es". Den deutschen Faschismus als konterrevolutionäre Antwort auf die großen 1917 in Russland einsetzenden und 1918 auf Deutschland übergreifenden revolutionären Bewegungen zu bewerten, greift zu kurz und negiert außerdem, dass den Faschisten erst ein gutes Jahrzehnt nach der Revolution die Macht übertragen wurde, als die Arbeiterbewegung . geschwächt worden war.
Auch hier ein Blick in die Geschichte.
Die gewachsene Stärke der Arbeiterbewegung führte in Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn zu Revolutionen. Sie beendeten den Völkermord, den Krieg 1918, stürzten in Deutschland die Monarchie, der Kaiser musste gehen. Die Arbeiterbewegung erzwang die Parlamentarische Republik und erheblich bessere soziale und demokratische Bedingungen für die Zukunft, darunter das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen, den Acht-Stunden-Tag, Arbeitsverhältnisse unter Tarifbedingungen, Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Betrieben, Anerkennung der Gewerkschaften.
Das zeigt, wie stark die Arbeiterbewegung zu diesem Zeitpunkt 1918/19 tatsächlich war. Auch die Mitgliedszahlen des Deutschen Metallarbeiter Verbandes sind in den Jahren 1918 -1922 am höchsten, sinken danach wieder. Die Arbeiterbewegung war 1920 stark genug, den Kapp-Putsch niederzuschlagen, mit dem Teile der alten Führungsschichten versuchten, die Errungenschaften von 1918/19 rückgängig zu machen und die bürgerlich demokratische Weimarer Republik zu zerschlagen.
Im Jahr der starken Arbeiterbewegung, im Januar 1919 wurde die NSDASP - unter dem Namen Deutsche Arbeiterpartei (DAP) gegründet. Hitler trat der Partei im September 1919 bei, wurde 1921 ihr Vorsitzender. In der Partei galt das Führer - Prinzip, Mehrheitsbeschlüsse wurden abgeschafft. Die Ideologie dieser Partei war wesentlich geprägt von den 4 Punkten im Parteiprogramm 1920: Schaffung eines Großdeutschlands, Revision des Versailler Vertrages, Kolonien für Deutschland, Entfernung aller Juden aus Deutschland. Die Partei war bis 1928 eine von vielen kleinen ultrareaktionären Splitterparteien. Die Faschisten, die sich von den anderen ultrareaktionären Kräften durch ihre soziale Demagogie unterschieden, erfuhren zwar Förderung von einzelnen Kapitalvertreter, z.B. Ernst v. Borsig, Fritz Thyssen, Emil Kirdorf, die bereits 1922/23 die Möglichkeit ins Auge gefasst hatten, die NSDAP durch entsprechende Zuwendungen zu einer Massenbewegung auszubauen.

1923, berichtet der amerikanische Botschafter Alanson B. Houghton im September über seine Begegnung mit Stinnes, dieser habe ihm gesagt, die Wirtschaftslage in Deutschland habe "ihren Tiefpunkt erreicht. Wenn Deutschland leben soll, muß die Erzeugung gesteigert werden. Fabriken und Werkstätten stünden bereit. Jedoch die deutschen Arbeiterschaft müsse länger und schwerer arbeiten. Er sagte, er glaube, daß die deutschen Arbeiter zu niedrig bezahlt wären, und daß er, wie er dächte, ihre Löhne verdoppeln oder gar verdreifachen könnte, wenn ein normaler Zehnstunden-Arbeitstag wieder eingeführt würde. Jedoch ist er überzeugt, daß die deutsche Arbeiterschaft auf diese Notwendigkeit nicht eingehen wird und daher hierzu gezwungen werden muß. Deshalb sagte er, muß ein Diktator gefunden werden, ausgestattet mit Macht, alles zu tun, was irgendwie nötig ist. So ein Mann muß die Sprache des Volkes reden und selbst bürgerlich sein, und so ein Mann steht bereit." (Hörster-Philipps, s.o.)
Zwei Monate später am 9. November 1923 unternahm Hitler einen Putschversuch gegen die Bayerische und Reichsregierung. Er blieb erfolglos. Hitler wurde verhaftet, ins Gefängnis gesperrt bis 1924. Die Partei spielte für die nächsten Jahre keine Rolle. Die Faschisten wurden zu diesem Zeitpunkt in der Reserveposition gehalten.

Geschwächte Arbeiterbewegung
Erst als die Weltwirtschaftskrise an den Festen des Kapitalismus rüttelte, die Arbeiterbewegung durch die Massenarbeitslosigkeit erheblich geschwächt worden war und die militärische Karte gezogen werden sollte - aus Sicht des Kapitals - um nicht wieder zu den Verlieren zu gehören und als ab 1929 das RDI-Sozialabbauprogramm rigoros umgesetzt werden sollte, wurde die Karte Faschismus an der Macht von den Herrschen gezogen.
1926 hat Hitler bereits dreimal vor Industriellen gesprochen, aber die Hitlerpartei war immer noch eine Option der Herrschenden unter anderen. Erst 1928, die Partei erhielt nur 2,6 Prozent der Wählerstimmen, gab es erste finanzielle Zuwendungen der Industrie an die Hitlerpartei, noch nicht bedeutend, ermöglichten aber der Partei aber den forcierten Aufbau von Berufsverbänden und Betriebsorganisationen (NSBO) sowie der SA und die Herausgabe von Zeitungen.
1929 konnte die Partei erstmals seit vielen Jahren wieder Stimmengewinne verbuchen - das Programm der Herrschenden lief. Das wurde nun durch die Unterstützung der NSDAP durch die Industrie verstärkt. Am 9. Dezember 1931 konferieren die Großindustriellen Thyssen und Vögeler in Berlin mit Adolf Hitler. Am 27. Januar 1932 konnte er im Düsseldorfer Industrieclub vor rund 700 Vertreter von Großindustrie und Banken sprechen. Am 28. Januar verhandeln die Großindustriellen Poensgen, Thyssen, Vögeler mit Hitler und Göring über eine Regierungsbildung, am 18. Mai trifft Hitler den "Keppler-Kreis" das erste Mal. Darunter befanden sich Vertreter der Banken, der Vereinigten Stahlwerke, Siemens, Hapag sowie Hjalmar Schacht. Die Wahlergebnisse stiegen 1930 auf 18,3 Prozent und erreichten im Juli 1932 mit 37,4 Prozent ihren Höhepunkt.
Als bei den Wahlen am 6. November 1932 die Stimmung kippte, die NSDAP zwei Millionen Stimmen verlor, auf 33,1 Prozent fiel, griffen die Herrschenden intervenierend ein. Zwei Wochen nach dem Wahlergebnis, schrieben Industriellen, Bankiers und Großagrariern an den Reichspräsidenten Hindenburg: "Wir bekennen uns frei von jeder engen parteipolitischen Einstellung. Wir erkennen in der nationalen Bewegung, die durch unser Volk geht ... die unerläßliche Grundlage für einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft ... . Wir wissen, daß dieser Aufstieg noch viele Opfer erfordert. (...) Die Übertragung der verantwortlichen Leitung eines mit den besten sachlichen und persönlichen Kräften ausgestatteten Präsidialkabinetts an den Führer der größten nationalen Gruppe wird (...) Millionen Menschen (...) mitreißen." Am 30. Januar wurde Hitler die Macht übertragen. In der Nazipartei sahen die entsprechenden Kapitalfraktionen den vielversprechendster Vollstrecker des Ziels den Griff nach der Weltmacht zu realisieren. Erst nach dem 30. Januar wurde die Arbeiter- und demokratische Bewegung zerschlagen und teilweise vernichtet - erst 14 Jahre nach ihrer größten Stärke in Deutschland - 1919 wäre das gar nicht möglich gewesen. Da die beiden antifaschistischen Arbeiterparteien tief gespalten waren, wurde ihre rechnerische Stimmenmehrheit bei den Novemberwahlen 1932 nicht wirksam.

3. Grenzen der Allmacht
Peter Scherer sagt, eine Wiederkehr der faschistischen Diktatur vom Typus der deutschen zwischen 1933 und 1945 sei auf Generationen hinaus nicht möglich, denn "wo es keine revolutionäre Bewegung gibt, gibt es auch keinen Boden für eine konterrevolutionäre Diktatur... Das Kapital war noch nie so mächtig wie heute." Richtig ist, dass das Kapital Generationen lang nicht mehr so mächtig war wie heute - die soziale Alternative, die es von 1917 bis 1989 gab, ist weitestgehend aufgelöst. Richtig ist, dass die sozialen und bürgerlichen Gegenkräfte heute schwach sind - aber nicht völlig aufgerieben und wehrlos, sondern es gibt durchaus weltweit und auch bei uns Widerstand - Widerstand und nicht nur Protest - der zu Teil- und Abwehrerfolgen führt. Das Kapital kann eben nicht "grenzenlos" handeln. Die Widersprüche verstärken sich. So macht der Blick nach Südamerika Mut. Es gibt nicht nur Kuba, das sich seit Jahrzehnten unter schlechten Bedingungen wehrt, sondern auch Venezuela, wo trotz hartem Widerstand die Gewinne der Ölindustrie für Sozialausgaben für die Menschen verwendet, Betriebe besetzt in Arbeiterhand weitergeführt werden. Das Beispiel Venezula strahlt auf ganz Südamerika aus. In allen Ländern gewinnen dort linke Kräfte an Einfluss.
Auch in Europa wehren sich die Menschen zunehmend. Einige herausragende Beispiele sind: Das Nein von Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung, Generalstreiks in Belgien, Frankreich, Griechenland, Massenproteste in Italien und Portugal, der Europäische Aktionstag am 3. April 2004. Der Einzug der Linkspartei in den Bundestag ist Ausdruck einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der immer hemmungsloseren Politik des Sozialkahlschlags. Beschäftigte wehren sich - wie die Beispiel Infineon in München, Alstom in Mannheim zeigen - immer entschlossener gegen den Abbau ihrer Arbeitsplätze. Die Beschäftigten der vier Universitätskliniken in Baden-Württemberg haben in ihrem 8-tägigen landesweiten Streik die Verlängerung ihrer Arbeitszeit abgewehrt. Schüler und Studierende gehen gegen die Zumutung von Studiengebühren auf die Straße. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wehren sich gegen Arbeitszeitverlängerung. Diese Beispiele ließen sich lange fortsetzen.
Der Macht des Kapitals, das, so Scherer, zum ersten Mal in seiner Geschichte grenzenlos "es selbst" sein kann, werden Grenzen aufgezeigt, wenn auch (noch) nicht in ausreichender Stärke. Peter Scherer betrachtet aus meiner Sicht zu wenig die Widersprüche, die es in der Machtverteilung und in den sich daraus entwickelnden Kämpfen gibt und zu wenig die internationale Situation.

4. Kampf um die Köpfe
"Die Entrechtung und Ausplünderung der Klasse vollzieht sich in aller Nacktheit, und fast vollständig ohne Ideologie und Ritual", so Peter Scherer. Nein, auch das heutige Kapital braucht und versendet eine Ideologie. Der von Scherer sehr eindrucksvoll dargestellte Charakter des real existierenden Imperialismus als "unmittelbare Herrschaft des Finanzkapitals unter Auflösung staatlicher und zwischenstaatlicher Normen, unter Auflösung jedweder Solidargemeinschaft" kann nur funktionieren, wenn es gelingt, die entwurzelten und ihrer Entwicklungschancen beraubten und verelenden Massen dauerhaft ruhig zu halten. Dazu reicht auch ein massivst ausgebauter staatlicher Repressionsapparat nicht aus. Dazu braucht es eine ins Konzept passende Ideologie. Selbst die insgesamt noch viel zu schwachen Gegenkräfte lassen nicht zu, dass das Kapital ganz schrankenlos "es selbst" sein kann.
Deshalb wird z.B. die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) mit beinah 100 Mio Euro von den Arbeitgeberverbänden finanziert. Deren bezahlte Mitarbeiter Kirchhoff, Miegel, Metzger, Merz usw. in immer neuen Varianten "Reformen" beschwören und in allen Talk Shows die Leier drehen: "Sozial ist was Arbeit schafft". Dass längere Arbeitszeit Arbeitsplätze schafft, ist Ideologie. Dass die Lohnnebenkosten sinken müssen, weil das Arbeitsplätze schafft, ist Ideologie. Dass Gewerkschaften in den Medien nur negativ dargestellt werden, ist Ideologie. Dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werden müsse, ist Ideologie. Die Kampagne "Du bist Deutschland" ist Ideologie mit nationalistischem Touch.
Faschistische Parteien erleben einen Aufschwung, wie die Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg, aber auch das Bundestagswahlergebnis zeigen. 5,5 Prozent aller der jungen Männer zwischen 18 und 25 Jahren haben bei der Bundestagswahl NPD gewählt. Auch in unseren europäischen Nachbarländern erleben Neofaschisten stärkeren Zulauf. So ist z.B. der Vlaamsblock im niederländisch geprägten Belgien zweitstärkste Partei - ohne das Vorhanden sein einer starken linken Kraft.
Deswegen kann ein Faschismus an der Macht - leider - durchaus sinnvoll für's Kapital sein. Dass dieser dann anders daher kommen wird als der historische Faschismus - der Inhalt wird ähnlich sein, die Form eine völlig andere - liegt auf der Hand. Erinnert sei hier nur an die Beispiele Österreich und Italien. Mein Fazit: Es kann durchaus sein, dass das Kapital die Karte, Faschismus an der Macht wieder ziehen will - wenn wir es nicht verhindern.


* Peter Scherers Gastreferat auf dem Bundeskongress der VVN-BdA trägt den Titel: "Der neue Absolutismus des Kapitals und die faschistische Gefahr." Es wurde in der antifa 7/8 05. veröffentlicht

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