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Nummer 3 / Juli 2005



Köhlers Rede zum 8. Mai:

Ein "national gesinnter" Bundespräsident?

von Reinhard Hildebrandt

Kritik und wenig Lob gab es für die Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum 8. Mai, er habe "Geschichtsklitterung"1 betrieben und die Geschichte "aufgeräumt"2. Die größte jüdische Internetseite haGalil sprach von einem "geringen Nachrichtenwert"3 der Rede, blieb sie doch weit hinter der des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor 20 Jahren zurück. Köhler habe sich mit seiner Rede erneut als "Wegbereiter eines neuen konservativen geistigen Umfelds"4 profiliert, so Gernot Erler (SPD). Lob gab es von dem Sprachrohr der "Neuen Rechten" Junge Freiheit für die Trauer auch um die deutschen Kriegsopfer. Die neofaschistische DVU hatte Köhler bereits für seine Antrittsrede im Deutschen Bundestag" als "national gesinnten Deutschen" gelobt.

"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." - diese klaren Worte von Weizsäcker in seiner historischen Rede sucht man bei Köhler vergebens, das Wort "Befreiung" taucht bei ihm nicht auf. "Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft" sagte Weizsäcker. Köhler verschiebt den Schwerpunkt des Gedenkens weitschweifig auf die deutschen Opfer, die Heimatvertriebenen, die Opfer des Bombenkriegs gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Die vorausgegangenen faschistischen Bombenangriffe auf Guernica, Rotterdam, Coventry, Warschau und Belgrad nennt er nicht. Er beklagt das Schicksal von "Hunderttausenden deutscher Frauen und Mädchen, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden", dass 12 Millionen ausländischer Zwangsarbeiter für die Kriegswirtschaft schufteten und den Profit der Industrie vergrößerten (es wird geschätzt, dass ihnen neunzig Milliarden Euro an Lohn vorenthalten wurden)5 sagt er nicht.
Dass es Widerstand gegeben hat, ist dem Bundespräsidenten keine Erwähnung wert. Seine Opfer werden als "Andersdenkende" subsumiert.
Sechzehn Prozent seiner Rede widmet Köhler den deutschen Opfern, 35 Prozent nehmen der Nationalstolz auf die Erfolge der Bundesrepublik (West) ein, sie habe eine "Begabung zur Freiheit" (so auch der Leitsatz seiner Rede), vierzehn Prozent beschäftigen sich mit der Unfreiheit in der DDR. "Thema verfehlt" 6 , könnte man sagen, aber das geht an der Tatsache vorbei, dass Köhler den 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands und Europas von Faschismus und Krieg instrumentalisiert hat, um geschichtsrevisionistische Thesen durch die begriffliche Gleichsetzung von Nazi-Deutschland und der DDR voranzutreiben. Um das zu erkennen, muss man genau hinhören und zwischen den Zeilen lesen. Köhler spricht von der "SED-Diktatur" und: "Die SED schaltete die Gesellschaft gleich."

Gleichsetzung von Nazi-Deutschland und DDR
Gleichschaltung war bekanntlich der Terror der Nazis, das Parteienverbot von KPD und SPD, die Besetzung von Häusern und Büros der Gewerkschaften durch SA und Polizei, die Beschlagnahme ihres Vermögens, die Verhaftung politischer Gegner und ihre Einlieferung in Zuchthäuser und Konzentrationslager.
Köhler nennt als Beispiel für Regimekritiker der DDR Herbert Belter, "der 1950 an der Universität Leipzig Flugblätter gegen die Unterdrückung verteilte und dafür hingerichtet wurde". Das soll Assoziationen zu den Geschwistern Scholl und den Flugblättern der Weißen Rose wecken. Und damit eine Gleichsetzung der SED mit der NSDAP. Nun ist es zweifellos legitim, Menschenrechtsverletzungen in der DDR anzuprangern. Zu den Verbrechen des Faschismus gibt es einen bedeutenden Unterschied: Die DDR hatte keine Konzentrationslager betrieben, sie hat weder einen Angriffskrieg begonnen noch einen Völkermord zu verantworten.
Hugo Belter wurde nicht in der DDR hingerichtet! Als Oppositioneller wurde er mit drei weiteren Studenten verhaftet und an den russischen Geheimdienst ausgeliefert und ein Opfer des stalinistischen Terrors. Belter wurde als Rädelsführer zum Tode verurteilt, am 28. April 1951 insgeheim erschossen. Niemand erfuhr etwas von seinem Schicksal bis sich nach 1990 die russischen Archive öffneten und eine offizielle Rehabilitierung ausgesprochen wurde. Die anderen drei Studenten wurden zur Zwangsarbeit verurteilt und kehrten 1955 nach Deutschland zurück.
Tote gab es allerdings in der jungen Bundesrepublik: der junge Gewerkschafter, Kommunist und Antimilitarist Philipp Müller wurde auf einer Demonstration gegen die Remilitarisierung am 11. Mai 1952 in Essen von der Polizei erschossen. Köhler verdrängt auch die Justizopfer des Kalten Krieges in der BRD 7. Von 1951 bis 1968 wurden rund 6 300 Kommunisten sowie "Sympathisanten" verurteilt und gegen 25 000 staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Es darf nicht vergessen werden, dass viele der Ankläger und Richter schwer belastete NS-Juristen waren. Köhler sagt kein Wort dazu, wie viele NS-Kriegsverbrecher ihre Karriere in der BRD fortsetzen konnten, in Justiz, Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und der Bundeswehr. Stattdessen behauptet er, dass "die führenden Nazis als Gruppe aus dem politischen Leben verbannt" wurden. Als geschlossene Gruppe sicherlich, aber eben nicht als Tausende von Einzeltätern. Anstatt die Karrieren von Hitlers Eliten nach 1945 als Skandal anzuklagen oder die braunen Wurzeln vom Bundeskriminalamt, der Polizei, den Geheimdiensten, dem Verfassungsschutz usw. aufzudecken, lamentiert Köhler, dass "in der Sowjetischen Besatzungszone schweres Unrecht die Erfolge bei der Entnazifizierung überschattet" habe.

Konjunktur für "Unbelehrbare"
Als positiv in Köhlers Rede bemerken manche den Satz "Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität unserer Nation. Wer einen Teil davon verdrängen will, der versündigt sich an Deutschland." Damit wandte sich Köhler gegen die Holocaust-Leugner und NS-Verharmloser. Aber er öffnet dabei auch der Totalitarismusdoktrin von den beiden deutschen Diktaturen den Weg. Richtig ist sicher, wenn Köhler zu den Verbrechen des Faschismus und seine Folgen sagt: "Wir haben die Verantwortung, die Erinnerung an all dieses Leid und an seine Ursachen festzuhalten, und wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder dazu kommt. Es gibt keinen Schlussstrich." Wenn er dann aber am Ende meint: "Es gibt bei uns leider auch Unbelehrbare, die zurück wollen zu Rassismus und Rechtsextremismus. Aber sie haben keine Chance. Dafür steht die überwältigende Mehrheit der mündigen Bürgerinnen und Bürger, und dafür steht unsere wehrhafte Demokratie." ist der Wunsch stärker als die Realität. Wenn es wirklich wahr wäre, dass Rechtsextremismus in Deutschland "mit allen denkbaren Mitteln bekämpft wird", wie Köhler bei seinem Besuch in Israel im Februar 2005 sagte, dann müsste beispielsweise unsere Organisation, die VVN-BdA, breite staatliche Unterstützung etwa für unsere Ausstellung "Neofaschismus in Deutschland" erhalten, anstatt vom Verfassungsschutz diffamiert zu werden. Wenn Köhler Recht hätte, könnten die Junge Freiheit und die Nationalzeitung der DVU nicht mehr die Erinnerung an die Opfer des Faschismus als "Nationalmasochismus" verunglimpfen. Dann würde der Artikel 139 des Grundgesetzes nicht als "obsolet" fehlinterpretiert, sondern als unverändert gültig angewendet. "Dies würde in der Praxis bedeuten, dass einem Verbot neonazistischer Parteien und Vereinigungen kein entsprechendes juristisches Verfahren mehr vorauszugehen hätte, da ein solches ohnehin bereits bestünde." 8 Dann bliebe uns der Anblick, wie deutsche Polizisten die Naziaufmärsche schützen, erspart.

Anmerkungen: :1 Junge Welt vom 9.5.2005, 2 Frankfurter Rundschau vom 9.5.2005, 3 Mark Querfurth: Der 8. Mai in Berlin, haGalil vom 9.5.2005, 4 AP vom 9.5.2005, 5 Thomas Kuczynski: Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte, S. 1, 6 Peter Danckert, Sprecher der brandenburgischen SPD-Bundestagsabgeordneten in der "Märkischen Allgemeinen vom 9.2.2005, 7 Heinrich Hannover: Die Justizopfer des Kalten Krieges, in Ossietzky Nr. 22/2004, 8 Verfassungsschutzbericht 2004 Baden-Württemberg, Seite 196.

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