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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 1 / Januar 2004



EU-Verfassungsentwurf:

Verfassung für den nächsten Krieg

von Elke Günther

Dem "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland", vom Parlamentarischen Rat am 23. Mai 1949 verkündet, droht noch vor 55. Jahrestag seiner Inkraftsetzung ein weitreichender Bedeutungsverlust. Am 9. Mai 2004 soll eine Europäische Verfassung ratifiziert werden, die Krieg als Mittel der Politik weiter enttabuisiert, in der sich die Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern."

Da Europäisches Recht nach herrschender Rechtsauffassung immer Länderrecht bricht, werden die Grundgesetz-Artikel 87a , Abs. 2 "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt" oder Artikel 26, Abs. 1 "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen" demnächst obsolet, weil sie im Widerspruch zum EU-Verfassungsentwurf stehen.

Freier Wettbewerb statt sozialer Marktwirtschaft
Statt (zwar schwammig formuliert, aber immerhin vorhandener) sozialer Verpflichtung, wie sie im Grundgesetz Artikel 20 1) "die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" zum Ausdruck kommt, werden die EU-Mitgliedstaaten auf den "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" verpflichtet. Die Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten muß "im Einklang mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik" stehen und die Sozialpolitik darf "die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union" nicht gefährden. (Artikel 69, 70, 98, 101). Von Sozialer Verpflichtung des Eigentums ist in der EU-Verfassung konsequenterweise nirgends die Rede. Da erscheint es wenig plausibel, wenn die PDS-Europaabgeordnete Kaufmann in der Einfügung von "sozialer Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung und "sozialem Fortschritt" in die Zielstellungen der Union (Artikel 1-3) einen "Bruch mit der einseitig neoliberalen Ausrichtung" entdeckt und erklärt, wer ein sozialeres Europa wolle, könne sich künftig darauf berufen.
Verfassungsfragen sind immer auch Machtfragen. 1949 war die Herrschaft des Kapitals noch nicht vollständig wieder hergestellt. Dieser Zustand spiegelt sich im Grundgesetz wider, das natürlich auch schon Kompromißcharakter hatte - der Kalte Krieg hatte bereits begonnen - und gegenüber den älteren Länderverfassungen (z.B. die Hessische Landesverfassung, in der die Aussperrung verboten ist) keine deutlich sichtbar antikapitalistische Handschrift trägt. Immerhin enthält das Grundgesetz die bereits erwähnte Sozialpflichtigkeit des Eigentums und eine Sozialisierungsmöglichkeit im Interesse des Gemeinwohls. (Art. 15).

Aufrüstung als Verfassungsgrundsatz
Von Militär und Verteidigung ist in der Grundgesetz-Ausgabe von 1949 nicht die Rede. Die Artikel 87a) und b) "Die Streitkräfte dienen der Verteidigung...." wurden erst mit Gründung der Bundeswehr eingefügt. In der modernsten Verfassung der Welt, der zukünftigen EU-Verfassung nimmt die sogenannte Sicherheitspolitik, die stets im Doppelpack mit der Außenpolitik auftritt, dagegen einen ungewöhnlich breiten Raum ein. Absolutes Novum in der Verfassungsgeschichte überhaupt, ist die in der künftigen EU-Verfassung enthaltene Verpflichtung der Mitgliedsstaaten darauf "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. I-40, Abs. 3). Damit das richtig klappt, wird ein "Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Ministerrat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen." (Artikel I-40, Abs. 3). Das neu einzurichtende Amt untersteht dem Ministerrat und wird auch als Druckfaktor gegen unbotmäßige Mitgliedsstaaten eingesetzt. Der Fall, daß sich ein EU-Staat der Aufrüstung verweigert (wie Griechenland, das seine die Eurofighterbestellung mit der Begründung, die Kampfflieger seien angesichts der Sozialabbaumaßnahmen derzeit politisch nicht durchsetzbar zurückgezogen hat) soll sich nicht wiederholen können. Wenn Verfassungsfragen Machtfragen sind, liegt der Verdacht nahe, daß die neue EU-Verfassung in engster Kooperation mit dem führenden europäischen Rüstungsgiganten EADS entstanden ist.

Zur uneingeschränkten Solidarität verdonnert
In Artikel I-40 Abs. 2 heißt es: "Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat einstimmig darüber beschlossen hat." Der konfusen Einleitung folgt Klartext. Damit künftig nichts mehr aus dem Ruder läuft, werden die 25 EU-Staaten via Loyalitätsverpflichtung dazu verdonnert, die Sicherheitspolitik der Union "aktiv und vorbehaltslos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität" zu unterstützen und sich "jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte" zu enthalten.

Völkerrechtsbruch festgeschrieben
Einmalig ist, dass die Bereitschaft zu weltweiten Militäreinsätzen ebenfalls Verfassungsrang erhalten soll. EU-Streitkräfte sollen zu "Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen (Artikel III-210) eingesetzt werden können. "Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, u.a. auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet." (Art. III-210). Die EU will weltweit militärisch intervenieren - wenn's die Rohstofflage sinnvoll erscheinen läßt. Die Kolonialkriege der Zukunft werden so verfassungsmäßig abgestützt.

Koalition der Kriegswilligen
Ausdrücklich befürwortet die EU-Verfassung die Herausbildung einer "militärischen Avantgarde", einer militärischen Elite innerhalb der EU. "Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union." (Art. 40, Abs. 6). Diese können dann vom Ministerrat mit der Durchführung von besonderen militärischen Aufgaben betraut werden: Der Ministerrat kann "die Druchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedsstaaten übertragen, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und sich an dieser Mission beteiligen wollen." (Art. III-210). Für die Gruppe der besonders Kriegswilligen gelten dann auch Sonderrechte: "Wenn der Ministerrat die europäischen Beschlüsse über den Gegenstand der strukturierten Zusammenarbeit erlässt, nehmen nur die Mitglieder des Ministerrats, die an der strukturierten Zusammenarbeit beteilgte Mitgliedsstaten vertreten, an den Beratungen und an der Abstimmung über diese Beschlüsse teil. Der Aussenminister der Union nimmt an den Beratungen teil. Die Vertreter der anderen Mitgliedstaaten werden ordnungsgemäß und in regelmäßigen Abständen vom Außenminister der Union über die Entwicklungen der struktuellen Zusammenarbeit informiert." (Art. III-213).

Das Parlament als schmückendes Beiwerk
Dieser Verfassungsentwurf fällt jedoch nicht nur wegen der in ihm enthaltenen sehr konkreten Verpflichtungserklärungen zur Übernahme militärischer Aufgaben aus dem Rahmen. Ziemlich einmalig dürfte unter demokratietheoetischen Gesichtspunkten sein, daß das Parlament in dieser Verfassung nicht als Kontrollorgan der Exekutive, sondern mehr als schmückendes Beiwerk gedacht ist. "Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus; es erfüllt ferner Aufgaben der politischen Kontrolle und Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verfassung. Es wählt den Präsidenten der Europäischen Kommission." (Art. 19, 1) Da versteht es sich von selbst, daß das Parlament bei Militäreinsätzen nicht gefragt wird. "Über militärische Einsätze der EU entscheidet der Ministerrat", regelt Artikel 40 Abs. 4 des EU-Verfassungsentwurfs. Ähnlich auch Artikel 40, Abs. 4: "Verlangt eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union, so erlässt der Ministerrat die erforderlichen Europäischen Beschlüsse." Das EU-Parlament wird damit erst gar nicht behelligt. Absatz 8 Art. 40 regelt lediglich, daß das EU-Parlament zu "wichtigsten Aspekten" regelmäßig anzuhören sei und über die Entwicklung der "grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Laufenden gehalten" wird. Die Macht liegt in den Händen des Ministerrats und da in allererster Linie in denen der Mächte Kerneuropas: Deutschlands und Frankreichs.

Präventivkriegsstrategie made in Europe
Der künftigen EU-Verfassung entspricht eine Sicherheitsdoktrin die fast wortwörtlich von den USA übernommen wurde. In dem Entwurf heißt es: "Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Wenn sie nicht beachtet werden, erhöht sich die Gefahr... Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen der Krise zu handeln." ..."Eine Union mit 25 Mitgliedern und einem Verteidigungshaushalt von 160 Milliarden Euro sollte in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig auszuführen. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die frühe, schnelle und, falls erforderlich, robuste Interventionen fördert." Das ist nichts anderes als die europäische Variante des Präventivkriegskonzeptes der Bush-Doktrin. Daß ein "Präventivkrieg" nach der UN-Charta völkerrechtswidrig ist, spielt für die Brüssler Strategen offenbar keine Rolle.

EU als Konkurrenzmacht zu den USA
Für die "Financial Times Deutschland" steht fest, daß die neue EU-Verfassung den Handlungsspielraum der Europäischen Union erweitert: "Gelänge es, die Rüstungsetats intelligenter einzusetzen, begäbe sich die EU auf den Weg zu bedeutenden außenpolitischen Macht." Sie würde mehr sein, "als ein einflussloser Verbündeter oder ein ohnmächtiger Kritiker der USA." Darum geht es. Die EU-Militärmacht wird trotz aller gegenteiliger Beteuerungen, als Konkurrenzprojekt im Kampf um Märkte und Rohstoffe zur Megamacht USA in Stellung gebracht. Nach dem Ende des realen Sozialismus gebe es keinen Zwang zu einem einigen Westen mehr, analysiert Egon Bahr. Europa habe die Chance, sich von US-amerikanischer Dominanz unabängig zu machen. "Die Selbstbestimmung ist nur gegenüber der Protektoratsmacht zu erreichen. Genauer: indem die weit gehende Dominanz Amerikas über die europäische Aussen- und Sicherheitspolitik beendet wird." Die Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks sind unterschiedlich geworden und werden es bleiben, und die eigenen Möglichketien und Grenzen müssen im Vergleich mit Amerika nüchtern eingschätzt werden."

Grundgesetz wird kompatibel
Die EU-Verfassung soll bis zum Jahr 2009 in Kraft treten. Bis dahin müssen die noch immer bestehenden offensichtlichen Widersprüche zwischen EU-Verfassung und Grundgesetz eingeebnet werden. Zwar wurde das Grundgesetz bereits massiv uminterpretiert, um die bisherigen Kriegseinsätze der Bundeswehr out-of-area zu ermöglichen. Eine Hürde hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 jedoch aufgerichtet: Der sogenannte Parlamentsvorbehalt sieht vor, daß der Bundestag Auslandseinsätzen der Bundeswehr mit einfacher Mehrheit zustimmen muß. Dieser Parlamentsvorbehalt ist mit dem EU-Verfassungsentwurf beim besten Willen nicht in Einklang zu bringen. Seine Aufweichung ist bereits in Arbeit: Durch das im schönsten Orwell'schen Neusprech "Parlamentsbeteiligungsgesetz" genannte Parlamentsentmachtungsgesetz. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, daß zukünftig nur noch bewaffnete Einsätze durch den Bundestag abgestimmt werden. Verlängerungen sollen automatisch erfolgen können, falls keine Bundestagsfraktion oder 33 Abgeordnete dem widersprechen. In diesem Fall entscheidet der Bundestag mit einfacher Mehrheit. Weitere nicht EU-kompatible Grundgesetzartikel harren der Uminterpretation oder Änderung. Die Zustimmung zur EU-Verfassung durch den Bundestag bedeutet eine generelle Verfassungsänderung. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die EU-Verfassung noch vor ihrem offiziellen Inkrafttreten rechtsbildend wirkt.
Das Thema Europa, Europäische Verfassung und die damit verbundene massive Militarisierung spielt in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion eine sehr untergeordnete Rolle. Weithin verbreitet ist die während des Irak-Kriegs geschürte Illusion, von einem Europa, das aus seinen grausamen Kriegen der Vergangenheit gelernt hat und heutige Konflikte auf friedlichem Weg beilegen will. "Der Unterschied zwischen den USA und Europa sei "der Unterschied zwischen einer Hegemonialmacht, die ihre Dominanz ausdehnen will, und einem Kontinent, der friedliche Stabilität erstrebt", schreibt Egon Bahr in seinem aktuellen Buch "Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal." (München, 2003, S. 106).
Jürgen Habermas spielt dieselbe Melodie, wenn er feststellt, daß sich in Europa das Ethos der sozialen Gerechtigkeit gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerchtigkeit durchgesetzt hat, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt. " Angesichts der Tatsache, daß die sozialen Errungenschaften derzeit europaweit mit der Abrissbirne "reformiert" werden, eine zynische Behauptung.

Eine Militärmacht Europa verhindern!
Daß der europaweit stattfindende Sozialraub, die Zerstörung erkämpfter sozialer Rechte und Standards bei gleichzeitigem massiven Demokratieabbau und europaweiter Militiarisierung zwei Seite derselben Medaille sind, haben bisher noch viel zu wenige Menschen erkannt. Am 9. Mai sollen, so wurde Anfang Dezember 2003 auf dem Kassler Friedensratschlag beschlossen, europaweite Aktionen gegen die EU-Verfassung stattfinden. Das Thema sollte ab sofort auf die Tagesordnung. Es ist spät, aber vielleicht noch nicht zu spät, sich einer künftigen brandgefährlichen Militärmacht Europa, für die wir alle die Zeche bezahlen, in den Weg zu stellen.


Weitere Informationen zum Thema:
Arno Neuber, Militärmacht Europa, isw Report Nr. 56
Tobias Pflüger, "Eine Militärverfassung für die Europäische Union oder auch die EU ist auf Kriegskurs" imi Informationsstelle Militarisierung e.V. imi@t-oneline.de

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