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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 4 / Oktober 2003



Das verdrängte Kapitel Vertreibung:

Zum Beispiel Breslau

von Kurt Pätzold

Unterstützt von der Bayerischen Landesregierung und beträchtlichem Rückenwind durch die Medien, machen die Vertriebenenverbände Druck, um angeblich offene Fragen aus der Geschichte von Krieg und Nachkrieg zu "klären" und ihr Projekt voranzutreiben, ein Vertriebenenzentrum in Berlin einzurichten. Über den Standort Berlin ließe sich nachdenken, waren die Deutschen doch nicht nur die "Klassiker des Faschismus", sondern auch der Vertreibung. Kein Regime betrieb Vertreibungen mit derart weitgesteckten imperialistischen Zielen, wie es das deutsche seit der 1938 einsetzenden Expansion tat.

Gegen Berlin spricht, daß der dann naheliegende Zugriff jener Deutschen, die gerade dabei sind, ihre eigene Geschichte in Krieg und Nachkrieg auf den Nenner zu bringen: "Kein größeres Leid als das deutsche" befürchten lässt, es werde selbst bei Mitwirkung eines internationalen Gremiums herauskommen, was sich jene Deutschen wünschen, denen eine derartige Ausstellung zur Präsentation unbeglichener Rechnung dienen sollen. Zahlung oder Rückgabe vor Aussöhnung - das ist eine ihrer Devisen.
Nun bewerben sich Politiker, Wissenschaftler und Künstler, die im polnischen Wroclaw wirken, angeführt vom Oberbürgermeister und dem Universitätsrektor, darum, ihre Stadt zum Sitz dieses Zentrums zu machen. Auch zugunsten dieses Ortes lassen sich Gründe nennen. Aus Breslau wurde die dort verbliebene Minderheit der einstigen deutschen Einwohner 1945 aufgrund der in Potsdam definitiv getroffenen Entscheidungen ausgesiedelt oder vertrieben. Ausgesiedelt: Das Wort scheint vielen bis heute als sprachliches Instrument zur (General-)Beschönigung der Ereignisse. Doch ist es das nicht. Umgekehrt: Wird auf diese Kennzeichnung verzichtet, dann wird manches Detail ausgelassen. Beispiel: Als klar war, daß aus dem Trümmerhaufen zu beiden Seiten der Oder eine polnische Stadt werden sollte, wurden die deutschen, meist sozialdemokratischen und kommunistischen Aktivisten, die nach dem Ende der Kämpfe - nicht anders als westwärts von Oder und Görlitzer Neiße - eine antifaschistische Stadtverwaltung zu bilden begonnen hatten, im Juli 1945 zu einem Treck zusammengestellt, der von sowjetischem Militär begleitet und so vor Übergriffen und Raub durch Polen geschützt, sich auf den Fußmarsch nach Görlitz machen konnte. Allein dies ließe schon über den Namen eines Zentrums nachdenken, in dem vielschichtige Vorgänge des 20. Jahrhunderts erforscht und dargestellt werden sollten.
Jedenfalls wäre Breslau/Wroclaw eine Stadt, bei weitem nicht die einzige europäische, in deren Geschichte sich Aussiedlungen, Flucht und Vertreibungen und deren Folgen verknüpfen und auch zeitlich überlappen. Der Vorschlag, Wroclaw, das einstige Breslau, zu favourisieren, hat es aber noch aus einem anderen Aspekt in sich. Von ihm soll im folgenden die Rede sein.

Deutsche vertreiben Deutsche
Die Vertreibung Millionen Deutscher begann nicht mit den Entschlüssen der Alliierten, nicht mit Dekreten und Weisungen, die in Warschau, Prag und Budapest oder wo immer entstanden. Sie begann gegen Ende des Krieges aufgrund und als Folge von Befehlen von Wehrmachtsoffizieren, Festungskommandanten und regionalen und lokalen Naziführern. Der Vorgäng ist längst mit dem Etikett "Rettung vor dem Bolschewismus" versehen und vernebelt worden und dient dazu der Wehrmacht und namentlich den in der Ostsee operierenden Einheiten der Kriegsmarine die Gloriole des Retters zu winden, auch wenn bei deren Unternehmungen schon Tausende Zivilisten in den winterlichen-eisigen Fluten umkamen.
Jenseits der Oder und Neiße waren weite Teile des deutschen Ostens bereits entvölkert, bevor der letzt Schuß des Zweiten Weltkrieges in Europa fiel. Die Bevölkerung hatte sich auf Trecks begeben und damit den Weisungen gefolgt, die ihnen Naziautoritäten in Zivil oder Uniform gegeben hatten. Bei eisigen Januartemperaturen zogen sie westwärts ins Ungewisse, ihre Habe, nicht selten das Werk eines ganzen Lebens zurücklassend.
Breslau ist die schlesische Metropole und einwohnerstärkste Stadt des damals deutschen Ostens, das Zentrum jener einst "Reichsluftschutzkeller" genannten Region. In ihr leben erheblich mehr als eine halbe Million Menschen. Als die Meldung vom Herannahen der sowjetischen Armee sich verdichteten und deutlich wurde, daß es zwischen Weichsel und Oder gegen sie keinen Halt mehr gab, erschienen die Zellen- und Blockleiter der Nazipartei vor den Türen der Einwohner, um sie energisch aufzufordern, die Stadt zu verlassen, auf welchem Wege auch immer. Ältere Frauen schnallten sich einen Koffer mit dem Notwendigsten auf einen Schlitten und zogen los. Andere drängten zu den Bahnhöfen. Dritte fanden Lastautos, auf die sie sich hocken konnten. Sie alle befolgten die ihnen übermittelten Befehle der Machthabenden und die Weisungen in den von Zeitungen und an Litfaßsäulen verbreiteten Aufrufen. Nur eine Minderheit blieb in der Stadt, die wenigsten aus freien Stücken. Wer "volkssturmpflichtig" war, risikierte Kugel oder Strick, wenn er sich entfernte. Wer Pflegebedürftige und nicht Transportfähige zu betreuen hatte, stand vor keiner Wahl. Wessen Arbeit als weiterhin kriegswichtig galt, konnte sich der Mehrheit auch nicht anschließen. Es kommt denen, die über dieses Kapitel der Vertreibung schweigen wollen, mehrerlei entgegen. Zum einen wurde dieser Aufbruch, die Flucht vor der herannahenden Front und einer Streitmacht, deren Angehörige nicht ohne Haßgefühle, nicht ohne Revanche- und Rachelust gedacht werden konnten, nicht als Vertreibung empfunden. Zum anderen steht er bis heute als der unwillkommene Beweis dafür, daß die übergroße Mehrheit der Deutschen bis in die letzte Kriegsphase hinein tat, was Nazifunktionäre und Wehrmachtsbefehlshaber von ihnen verlangten: nicht willens oder eher nicht fähig, sich zu fragen, warum und mit welchen Folgen sie dirigiert wurden und sich dirigieren ließen. Denn denen ging es doch nicht um Errettung von Menschenleben. Wäre es ihnen darum zu tun gewesen, hätten sie den Krieg längst beenden müssen. Worum aber dann?

Nicht Rettung sondern Kriegsfortsetzung
Um das Weiterfunktionieren ihrer Kriegsmaschinerie, um die Fortsetzung des verzweifelten Versuchs, abzuwenden, was nicht abzuwenden war - die bedingungslose Kapitulation. Zwei Kalküle, die schon in früheren Kriegen eine Rolle gespielt hatten, leiteten die Befehlenden. Zunächst war das das Wissen, daß sich der Krieg im eigenen Lande schwerer fortsetzen lassen würden, wenn er in bewohnten Ortschaften und Städten - gleichsam zwischen Frauen und Kindern - geführt werden mußte. In von Menschen entleerten Gegenden konnten sich die totalen Kriege ebenso verhalten wie in Polen und Belorußland oder wo immer.
Waren Rückzug oder Flucht unvermeidlich, gerieten die gegnerischen Truppen auf menschenleeres Gebiet und das war zu ihrem Nachteil. Ortskundige Hilfskräfte standen ihnen dann nicht zur Verfügung. Der Aufbau der eigenen Logistik zur Weiterführung der Kämpfe war erschwert, selbst dann, wenn sie nicht auf ein Terrain gelangten, das als "verbrannte Erde" bezeichnet werden konnte. Den Feind also möglichst nur in ihm fremdes, gespenstisch anmutendes Gebiet vordringen zu lassen, hatte in der Geschichte der Kriege Tradition und war beileibe keine originelle Praxis. Jedoch ließ sich diese Vorgehensweise auch nicht übertreiben und in Städten nicht vollständige praktizieren, namentlich dann nicht, wenn sie zu "Festungen" erklärt wurden.

Die "Festung" Breslau: Bis alles in Scherben fällt
Das erfuhr jene Minderheit von Breslauern, die bis in die letzten Januar- und ersten Februartage ausgehalten und die Nazibefehle nicht befolgte hatte. Der Druck, die Stadt zu verlassen, ließ nach. Ohne einen verbleibenden Rest an Zivilbevölkerung war das wahnwitzige Vorhaben nicht ins Werk zu setzen, die Stadt zu "verteidigen". Wer arbeiten konnte, wurde zum Bau von Barrikaden gebraucht, Wer, wie alt auch immer, für militärische Verwendung tauglich schien, wurde zum Melder eines sich zu einem "Kommandanten" aufschwingenden NSDAP-Ortsgruppenleiters gemacht oder zum Adjutanten irgendeines anderen kriegerischen Gernegroß und gelangte in die Kategorie derer, denen Lebensmittelkarten, eine unerlässliche Bedingung für das Verbleiben, zugebilligt wurde. Gleiches galt für das unentbehrliche Personal von Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerken, von Lazaretten und Krankenhäusern, das sich, wenn die Kämpfe erst entbrannten, auf einen Massenansturm einzurichten hatte. Zehntausende Soldaten in den in die Stadt hineingezogenen Wehrmachtseinheiten konnten nicht funktionieren ohne Hilfskräfte verschiedenster Art.
Mit der gelungenen Austreibung der Mehrheit der Breslauer war nicht zuletzt eine weitere wesentlich Bedingung für die Fortführung der Kämpfe entstanden. Mehr als eine halbe Million Menschen in einer eingeschlossenen Stadt, das hätte das raschere Ende der "Festung" allein schon deswegen bedeutet, weil die Ernährung der Verbliebenen nicht über Monate zu sichern gewesen wäre. So aber konnten die Durchhaltebefehle von noch immer gesättigten Kämpfern und ihren Hilfskräften befolgt werden. Es dauerte bis in die ersten Maitage, bis die letzten deutschen Einheiten der "Festung Breslau" kapitulierten. Die im Januar noch nahezu unzerstörte Stadt hatte sich in einen der größten Trümmerhaufen Europas verwandelt.
Das führt zur Charakterisierung der unmittelbaren Folge der Botmäßigkeit und des Befehlsgehorsams der Beslauer und der Millionen Deutschen ostwärts der Oder. Daß sie - gewiß im Glauben an Alternativlosigkeit, in Angst vor den Siegern, den Bolschewistenschreck in sich - nicht blieben, wo sie waren, sondern sich auf Straßen und Schienenwege treiben ließen, was die einen in das Bombeninferno Dresden führte, andere, die nicht rasch genug flohen, in Gefechten und zwischen den Fronten zugrunde gehen ließ, verlängerte den Krieg. Daß sie, in ihren angestammten Behausungen verbleibend, dort den deutschen Soldaten nicht zuriefen, "Macht endlich Schluß jetzt", war von gleicher Wirkung. So wenig sich über ungeschehene Geschichte sagen läßt: Das Ende des Krieges vor oder an den Grenzen des Reiches, der Einzug der Streitkräfte der Sieger, ohne daß sie sich jeden Meter erkämpfen und tagein, tagaus Kameraden begraben mußten, ohne daß sie selbst, das Ziel ihrer Strapazen und das Ende ihrer Leiden greifbar nahe vor sich sehend, jede Stunde um das eigene Leben zu bangen hatten - das würde auch für viele Deutsche eine andere Endsituation des von ihnen verursachten Zweiten Weltkrieges geschaffen haben. Von dieser Alternative wird nicht geredet, über sie kaum geschrieben. Sie mag als ein schöner "historischer" Traum erscheinen.
Das Vergangene zu durchdenken, führt auch zu der Frage, was die Deuschen denn gleichsam an sich selbst verbrochen haben. Ich bewerbe mich, sollte es zur Schaffung des gedachten, in seiner Funktion umstritten, einen angemessenen Namen noch suchenden Zentrums wirklich kommen, um die Anfertigung eines Konzepts für die Ausgestaltung des Großraumes "Der Beginn der Austreibung der Breslauer aus ihrer Stadt durch Wehrmachtsbefehlshaber und Nazifunktionäre zum Zwecke der Fortsetzung des Krieges". Dort wird zu zeigen sein, daß und wie die erste Flucht (aus Kriegsangst und "Russenfurcht") und Vertreibung (nach deutschen Befehlen) der zweiten Vertreibung (nach alliierten Entscheidungen, polnischen Weisungen und praktisch massenhaft wider deren Intentionen und Inhalt) vorarbeitete.

Diesen Text haben wir leicht gekürzt der Jungen Welt vom 5.8.2003 entnommen.

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