VVN-Logo VVN-BdA Baden-Württemberg, Böblinger Strasse 195, D-70199 Stuttgart / Tel. 0711/603237 Fax 600718 20.06.2003
antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 3 / Juli 2003



Dokumentation bundesdeutscher Flüchtlingspolitik:

Gewalt mit tödlichen Folgen

von Ulla Jelpke

Anfang März veröffentlichten die Frankfurter Rundschau (FR) und der Berliner Tagesspiegel zum dritten Mal eine eigene Bilanz der Todesopfer rechter Gewalt. 99 Menschen sind danach zwischen 1990 und 2002 von rechten Schlägern brutal getötet worden. Erfaßt wurden nur Tötungsverbrechen, an deren rechtem Hintergrund kein Zweifel besteht. Drarüber hinaus nennen FR und Tagessiegel sieben weitere Todesfällen, in denen der dringende Verdacht eines rechten Tathintergrunds besteht. Die seit Anfang 1993 vorgelegten Statistiken der Bundesregierung waren indes immer weit davon entfernt, das Ausmaß rechter Gewalt realitätsgemäß wiederzugeben. Bereits im Sommer 2000 hatte die ARD-Fernsehsendung "Panorama" von 117 Fällen gesprochen. Das Innenministerium nannte zum gleichen Zeitpunkt lediglich 24 Todesopfer. Heute zählt die Bundesregierung ganze 39 Opfer. Dabei hat das Bundesministerium des Inneneren selbst eingeräumt, "Schwachstellen" bei der Erfassung dieser Verbrechen seien unter anderem die "erheblichen Bewertungsspielräume der Länder" und "Erfassungsdefizite für bestimmte Fallgruppen". Gerade in der Opfergruppe der Obdachlosen sind diese Erfassungsdefizite besonders gravierend. In der Aufstellung der FR von 2001 finden sich 16 geötete Obdachlose. Das sind 17 Prozent aller gezählten Todesopfer rechter Gewalt.
Mit dem 1. Januar 2001 sollte zumindest die statistische Erfassung anders werden. Ein neues Meldeverfahren sollte nun "politisch motivierte Kriminalität", also auch neofaschistische Gewalt, erfassen. Doch in den aktuellen amtlichen Statistiken nach der neuen Methode hat sich nichts geändert. Es wird weiter bagatellisiert und verschwiegen. Offizielle Statistiken zu den Opfern staatlicher Gealt gibt es aus naheliegenden Gründen schon gar nicht. Es handelt sich ja auch größtenteils nicht um Staatsbürger dieses Landes, sondern in der Mehrheit "nur" um Flüchtlinge und illegale Einwanderer, denen mit größter Selbstverständlichkeit wesentliche Menschenrechte gar nicht erst zugestanden werden. Die dringend nötige Gegenöffentlichkeit schafft hier unter anderem die Antirassistische Initiative Berlin. (ARI). Sie hat gerade die zehnte aktualisierte Auflage ihrer Dokumentation der tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik veröffentlicht. In der 260seitigen Broschüre finden sich sowohl Berichte über Einzelschicksale als auch Zahlen zu Todesopfern während der letzten zehn Jahre. Detailliert werden die menschenunwürdigen Lebensbedingungen von Flüchtlingen, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, also entweder keine Papiere besitzen oder sich in Asylverfahren befinden, geschildert. Gleichzeitig werden die konkreten Folgen der Änderungen des Asyl- und Ausländerrechts während der vergangenen 20 Jahre nachgezeichnet. Eine "Armee von Schreibtischtätern und ein Heer von Polizei- und Bundesgrenzschutzbeamten stehen dem einzelnen Flüchtling gegenüber" schreiben die Verfasser der Dokumentation, um am Ende die "Abschiebung, durchgesetzt mit allen Tricks und vor allem mit Gewalt" zu erreichen.
Die ARI-Recherche umfaßt den Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis zum 31. Dezember 2002. Allein die Zahlen sind erschütternd: 137 Flüchtlinge starben auf dem Weg in die BRD oder an den deutschen Grenzen, davon allein 106 an der deutschen Ostgrenze. 111 Flüchtlinge starben durch Selbsttötung angesichts ihrer drohenden Abschiebung, 45 von ihnen in der Abschiebehaft. Fünf Menschen starben während ihrer erzwungen Ausweisung. 206 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Mißhandlungen des BGS während der Abschiebung verletzt, 18 Abgeschobene kamen in ihren Herkunftsländern zu Tode und minestens 337 von ihnen wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär mißhandelt und gefoltert. Mindestens 44 Menschen verschwanden nach der Abschiebung spurlos. Zehn Füchtlinge starben durch Polizeimaßnahmen und mindestens 272 wurden dabei verletzt. Auch Angriffe aus der deutschen Bevölkerung sind in der Broschüre dokumentiert: 57 Flüchtlinge starben infolge von Brandanschlägen auf ihre Unterkünfte, mindestens 582 wurden zum Teil erheblich verletzt.
Die Zahlen werden sich mit der Bilanz 2003 erneut drastisch erhöhen. Allein im Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau haben bis zum heutigen Tag 21 Flüchtlinge versucht, sich zu erhängen und 35 haben sich zum Teil schwere Schnittverletzungen zugefügt.

Die Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen. 10 Jahre im Rückblick - 1993 bis 2002". 10 Euro zzgl. 1,60 Porto bei der Antirassistischen Initiative, Tel. 030/7857281 Fax 030/7869984 eMail ari-berlin@gmx.de

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