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Nummer 3 / Juli 2003



Verteidigungspolitische Richtlinien:

Verfassungsbruch auf dem Erlasswege

von Elke Günther

Am 21.5.2003 hat Bundesverteidigungsminister Struck die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) erlassen und damit das Grundgesetz fast pünktlich zu dessen 54. Jahresstag am 23. Mai für "künftig wegfallend" erklärt. Eine Verfassung, in der es heißt: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf" (Art. 87a) (1) "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt" (Art. 87a) (2) und die die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe stellt (Art. 26) ist mit den in den VPR gemachten Vorgaben, die Wehrminister Struck ebenso knapp wie präzise in dem Satz: "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt" zusammengefaßt hat, nicht in Einklang zu bringen.

Auf dem Erlaßweg ist die Bundesrepublik Deutschland damit 70 Jahre nach dem Beginn der Naziherrschaft und 64 Jahre nach dem Ende des bisher blutigsten Krieges der Weltgeschichte mit mehr als 55 Mio. Toten aus dem einst schon von Bundesverteidigungsminister F.J. Strauß vielbeklagten "Schatten der Vergangenheit" herausgetreten. Die gleich nach der "Wiedervereinigung" konsequent in Angriff genommene ideologische "Enttabuisierung des Militärischen", fand ihren praktischen Niederschlag bereits in den ersten Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992. In dem Papier, das unter Federführung des damaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr Naumann im Hause Rühe entstanden war, wird ebenso grundgesetzwidrig wie schnörkellos das zukünftiges Aufgabengebiet der Bundeswehr mit "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" bezeichnet. Heute, wo Krieg wieder Mittel der Politik ist, Bundeswehrsoldaten in 9 Ländern und drei Kontinenten stehen und ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister auf der Hardthöhe residiert, drückt man sich konzilianter aus: "Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar."
Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, die DFG-VK-Bundessprecher Jürgen Grässlin zurecht als "aggressivstes deutsches Militärprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg" charakterisiert, stellen insofern jedoch keine grundsätzlich neue Qualität, sondern eine Fortschreibung und inhaltliche Konkretisierung der alten VPR dar.

Gegen Demokraten helfen nur Soldaten?
"Die Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr ... entspricht dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat... Dementsprechend läßt sich Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer sie gefährdet ist" (Punkt 4 und 5) verkünden die VPR in schönstem Orwellschen Neusprech, daß Angriff Verteidigung ist.
Solche Entgrenzung der Verteidigungsräume schließt konsequenter Weise auch den Einsatz im Inneren der Bundesrepublik ein. Für diesen Verfassungsbruch - das Grundgesetz (Notstandsgesetze) erlaubt den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Unterstützung von Polizei und Bundesgrenzschutz nur "zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand" der Bundesrepublik und nach vorheriger Feststellung des Verteidigungsfalles durch den Bundestag - greift der Rüstungsminister zum Konstrukt einer angeblich "gewachsenen Bedrohung deutschen Hoheitsgebietes durch terroristische Angriffe". Daß sich die "gewachsene Bedrohung" in Deutschland in keinem einzigen der zahlreichen von den Medien hochgpushten Fälle als real erwiesen hat - erinnert sei dabei nur an das angebliche "Terrorpärchen von Heidelberg", dem schlußendlich eine unglückliche Leidenschaft für selbstgebastelte Feuerwerkskörper zur Last gelegt werden konnte - stört den Verteidigungsminister nicht im Geringsten. In den VPR (Punkt 75) "... gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder." Um den Einsatz im Inneren geht es auch im ersten Teil von Punkt 80 der VPR. "Zum Schutz Deutschlands und seiner BürgerInnen leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption."

Terroristenjagd per Ermächtigungsgesetz
"Bundeswehr soll auf Terroristen-Jagd gehen", titelte Springers Flaggschiff "Welt" bereits am 16. Mai. Die Bundeswehr müsse zur Gefahrenabwehr mobilisiert werden können, forderte Bayerns Innenminister Beckstein auf der Innenministerkonferenz Mitte Mai. Bundesinnenminister Schily versprach Vollzug. Er will bis zur Sommerpause einen Gesetzentwurf vorlegen, damit die Bundeswehr "im Wege der Amtshilfe" voll einsatzfähig ist.
Will man den nächsten durchgeknallten Ultraleichtflieger-Piloten zwecks Glasschadensvermeidung mit dem Eurofighter durch Frankfurts Häuserschluchten jagen? Gehört zur "Aufgabenwahrnehmung im Inland" demnächst die Sicherung von Castor-Transporter mittels Leopard? "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" wußte man schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten. Die anvisierten Bundeswehreinsätze im Innern signalisieren jedoch keine Zeitreise in vordemokratische, sondern eher nachdemokratische Zustände. Im zunehmend härter und aggressiver ausgetragenen imperialistischen Konkurrenzkampf um Einflußsphären, Märkte und Rohstoffe kommt mit dem Sozialstaat die Demokratie gleich mit unter die Räder.
Dazu paßt, daß der Bundestag zukünftig nicht mehr mit Kriegseinsätzen behelligt zu werden braucht. "Die Verpflichtung Deutschlands zur schnellen militärischen Reaktionsfähigkeit im Rahmen von NATO und EU macht eine ebenso schnelle politische Entscheidungsfähigkeit auf nationaler Ebene unabdingbar" (Punkt 53). Deshalb soll der Bundestag noch in diesem Jahr via "Entsendegesetz" seiner Entmächtigung zustimmen. Der Bundestag soll einen Beschluß fassen, in dem er ausdrücklich darauf verzichtet, sich im einzelnen mit Kriegseinsätzen zu befassen.

Militarisierung als Programm
In den VPR wird die Militarisierung der EU zum Programmschwerpunkt erhoben. Da ist es nur konsequent, daß Rüstungsminister Struck jüngst gemeinsam mit seinen italienischen, französischen und belgischen Amtskollegen verlangt hat, die Rüstungsinvestitionen aus der Neuverschuldung herauszurechnen. Damit ist ein neues, gefährliches und den Sozialabbau forcierendes Wettrüsten vorprogammiert, denn die "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsplanung" (ESVP) ist allen Verbeugungen in Richtung Atlanik zum Trotz, ein gegen die einzige Supermacht aufgezogenes Konkurrenzprojekt. "Die EU ist der Kern des europäischen Stabilitätsraums. ...Krisen, die Europa berühren, muss die EU mit einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können. Die ESVP ist daher ein entscheidender Schritt... zur Erweiterung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas. Ziel ist die Schaffung einer Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion als Teil einer voll entwickelten Politischen Union." (Punkte 50 und 51) Deutschland habe in den vergangenen Jahren bei den Beschlüssen zur Ausgestaltung der ESVP eine Schlüsselrolle gespielt, stellt der Minister nicht ohne Stolz fest. In der Tat hat sich die rot-grüne Regierung in den letzten Jahren bemüht, die EU-Militärpolitik zu prägen. Sie bietet mit 18 000 Mann das größte nationale Kontingent der 60.000-Mann starken schnellen Eingreiftruppe auf, die in diesem Jahr einsatzfähig sein soll und stellt sogar ein Drittel des 100.000-Mann-Pools, aus dem die Truppe dann je nach Bedarf zusammengesetzt wird. Die EU-Eintreiftruppe verfügt über 336 Kampfflugzeuge, 100 Schiffe (davon 4 Flugzeugträger, 17 Fregatten, 5 Korvetten und 7 U-Boote).
Wer in der EU den Ton angeben will, darf bei der Ausrüstung der landeseigenen Armee - Haushaltslöcher hin oder her - nicht knausern. "Eine moderne und qualitativ hochwertige materielle Ausprägung sämtlicher Teilfähigkeiten ist finanziell nicht zu leisten. Auf der Grundlage der mittelfristigen Finanzplanung wird daher eine aus den Aufgaben der Bundeswehr abgeleitete Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung entwickelt. Priorität haben weiterhin die bisher nicht vorhandene Teilfähigkeiten "Strategische Verlegung" und "Weltweite Aufklärung" sowie "leistungsfähige und interoperable Führungssysteme und Mittel. Die Grundfähigkeit zur Flugkörperabwehr, zu der auch der Schutz von Truppen im Einsatz vor Angriffen mit Raketen und Flugkörpern gehört, ist weiter auszubauen." (Punkt 92) Was sich nach Zurückhaltung und Beschränkung anhört, wird in den nächsten 20 Jahren nach seriösen Schätzungen zwischen 140 und 150 Mrd. Euro verschlingen. Die genannten Prioritäten bedeuten in der Praxis die Beschaffung von (derzeit) 60 A 400 M Großraumtransporter (Strategische Verlegung) zum vorgesehenen Gesamtpreis von 8,3 Mrd. Euro. "Weltweite Aufklärung" heißt Anschaffung eines nationalen, weltweit nutzbaren Radaraufklärungssystems. Die anvisierte Grundfähigkeit zur Flugkörperabwehr heißt Weiterentwicklung eines taktischen Luftverteidigungssystems, das rund 15 Mrd. Euro verschlingen wird und das nicht für Landesverteidigung, wohl aber für Auslandseinsätze taugt. Weiterhin in Auftrag geben wurden: 180 Eurofighter, 80 High-Tech-Kampfhubschrauber Tiger, 600 Marschflugkörper für Tornados und Eurofighter, 3 neue Fregatten, 5 neue Korvetten (vor allem für den Beschuß von See an Land), 4 supermoderne U-Boote.

Präventivkrieg
In den gültigen VPR findet sich im Unterschied zum Vorentwurf kein offenes Bekenntnis zur Präventivkriegsdoktrin der USA. Die entsprechende Passage im Vorentwurf lautete: "Vor allem... gegen nichtstaatliche Akteure und Terroristen können zur politischen Krisenvorsorge komplementäre militärische Maßnahmen zur Abwehr der Bedrohung frühzeitig notwendig werden." In den jetzt gültigen VPR heißt es: "Zur Abwehr von Bedrohungen sind zudem vor allem gegenüber nicht-staatlichen Akteueren entsprechende zivile und militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln." Eine offene Übernahme der völkerrechtswidrigen Präventivkriegsdoktrin der USA, die dem Irak-Krieg die Absolution erteilt und die (in diesem Fall) kriegsablehnende Haltung der Bundesregierung im nachhinein ins Unrecht setzt, läßt sich aus dieser Formulierung nicht mehr ableiten. Die Stuttgarter Zeitung sah sich in ihrem Kommentar vom 22.5.03 deshalb zu folgender Mängelrüge veranlaßt: ... "Unausgesprochen bleibt auch, wie Deutschland prinzipiell zu Vorbeugungskriegen steht. Nach dem Irak-Konflikt wäre eine Positionierung in dieser völkerrechtlich entscheidenden Frage notwendig. Hier versagt Peter Struck in seinem Anspruch, die Leitlinien für die Verteidigungspolitik der kommenden Jahre zu definieren." Solche Kritik ist nicht gerechtfertigt. Denn diese Bundesregierung hat in Jugoslawien gezeigt, was sie, wenn's den eigenen Interessen nützt, von "Vorbeugungskriegen" hält. Auch unausgesprochen.

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