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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 2 / April 2003



Antifaschistische Wochen in Nürtingen:

Gegen das Vergessen - erinnern um zu Handeln

von Elke Günther

Am 11. März 1933 wurden auch in Nürtingen die ersten Nazigegner deportiert. Aus diesem Anlaß hatte sich ein Komitee aus Mitgliedern verschiedener Gruppen und Organisationen, darunter DGB-Ortsverband, VVN-BdA Esslingen, SPD- und Grünen-Ortsverband, Wahlliste Nürtinger Liste/Grüne, Nürtinger Friedenskreis und Unabhängiger Studentenausschuß der Fachhochschule Nürtingen zusammengefunden, das unter dem Motto: "Gegen das Vergessen 1933 - 2003" mit Vorträgen, Lesungen, Konzerten und Filmveranstaltungen an dieses dunkle Kapitel, das auch in der Neckarstadt seine Spuren hinterlassen hat, erinnern wollte. Die Nürtinger "antifaschistischen Wochen" enden am 12. April mit einem Abschluß- und Auswertungstreffen.

Den Auftakt zu der Veranstaltungsreihe bildete eine Kundgebung am 11. März vor dem Nürtinger Rathaus. Karl Schmid vom Kreisverband der VVN-BdA Esslingen ging in seiner lokalgeschichtlich sehr faktenreichen und nicht zuletzt auch dank persönlichen Beziehungen zu den Opfern eindrucksvollen und bewegenden Rede auf die Ereignisse des Jahres 1933 ein. Er zitierte aus den Lebenserinnerungen des ehemaligen KPD-Gemeinderats Ludwig Knauss: "Die nun allerwärts einsetzende Verhaftungswelle, auch in Nürtingen, viel größer als zu ahnen, war ein Schock. Für uns hatten wir ja schon etwas vorgesagt. Wir hatten auf Notunterkünfte gesonnen. .. An der Gemeinderatssitzung am 10. März nahmen wir alle noch teil. Ich meine, daß Bürgermeister Weilenmann eine Bemerkung machte, die wir als Warnung verstanden. Jedenfalls hatten wir, nach Schluß der Sitzung in der "Traube" versammelt, ein Ohr für die letzten Nachrichten. In Bayern seien umfangreiche Verhaftungen im Gange, hieß es. Das wir für uns ein Signal. Wir kehrten fürs erste nicht in unsere Wohnungen zurück. Das war gut so. Denn bereits in dieser Nacht ging es auch hier los. In Oberensingen wurden wurden sechs unserer Genossen aus den Betten geholt, in Nürtingen einige mehr. Auch auf dem Lande draußen, in Zizishausen, in Wolfschlugen im Täle bis nach Neuffen, im Neckartal, wurden bekannte Kommunisten in Haft genommen und, sobald das Heuberg-Schutzhaftlager installiert war, am 20.3.1933 dorthin transportiert." Insgesamt wurden dort in der Zeit vom 20.3.1933 bis zur Auflösung des Lagers Ende 1933 3500 - 4000 Nazigegner gefangengehalten, gedemütigt und gequält. Für viele war der Heuberg die erste Station auf dem Weg durch die Hölle, die Dachau, Buchenwald, Ravensbrück und auch Auschwitz hieß. Einem geheimen Lagebericht der Württembergischen Politischen Polizei vom Juli 1933 ist zu entnehmen, daß in den Tagen vom 10.3.1933 bis 15.3.1933 1700 kommunistische und sozialdemokratische Funktionäre in "Schutzhaft genommen wurden. Sogenannte "Schwarze Listen" existierten überall. Es war auch die Stunde der Denunzianten, die "alte Rechnungen" mit den "roten Nachbarn" begleichen wollten. Karl Schmid ging in seinem Vortrag auch auf das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Nürtingens ein. "Von den 11 im Jahr 1933 hier wohnenden Juden kamen zwei im tödlichen Strudel der staatlich geplanten und gelenkten Ermordung um. Vier weitere starben während der Verfolgungszeit unter den bedrückendsten Umständen. Fünf gelang die Rettung in Ausland." Auf zwei jüdische Opfer, die er als Kind noch persönlich gekannt hat, ging Karl Schmid ausführlicher ein. Eines davon war Anne Frank. Der Witwe, deren Sohn als Kriegsfreiwilliger 1918 an seiner schweren Verbundung gestorben war, wurde in Nürtingen buchstäblich das tägliche Brot verweigert. Am 15. Oktober 1941 wurde Anna Frank mit einem Transport nach Haigerlich, das als Sammelpunkt für Deportationen in den Osten diente, gebracht. Sie erlitt dort einen schweren Unfall, an dessen Folgen sie drei Wochen später verstarb, weil sich sogenannte arische Ärzte weigerten, medizinische Hilfe zu leisten. Über Entstehung und Erscheinungsformen des Neofaschismus in der Bundesrepublik referierte VVN-BdA Landessprecherin Anne Rieger am 13.3. in der "Seegrasspinnerei". Rund 100 ZuhörerInnen verfolgten ihren engagierten Vortrag mit großem Interesse. Eine Stunde Null, einen wirklichen und tiefgreifenden Bruch mit der faschistischen Vergangenheit habe es nach 1945 nicht gegeben, stellte die Referentin fest. Schon nach sehr kurzer Zeit konnten bedeutende Teile der Nazieliten in ihre früheren Posten in Justiz, Verwaltung, Politik zurückkehren. Eine wirkliche Aufarbeitung der Nazivergangenheit fand deshalb nicht statt. Erst die Studentenbewegung von 1968 habe sich intensiv mit der Nazivergangenheit auseinandergesetzt und eine Aufarbeitung des Faschismus gefordert. Neofaschistische Gruppierungen, die es seit Gründung der Bundesrepublik in welchselnder Gestalt, aber nahezu identischen Zielvorstellungen immer gegeben hat, beförderten und vertieften rassistische und ausländerfeindliche Grundeinstellungen in der Bevölkerung. Sie bildeten das Vehikel für ein "allmähliches Nach-rechts-Gleiten in der Gesellschaft.
Neofaschisten, ob "Stiefelfaschisten" oder Parteien wie die Reps oder die DVU, stellten sich als Vertreter der kleinen Leute dar, bekämpften aber Gewerkschaften. In jüngster Zeit habe es sogar Morddrohungen gegen engagierte Gewerkschafter gegeben, berichtete Anne Rieger. Neofaschismus, darin waren sich die meisten Diskussionsteilnehmer einig, dürfe einfach als irgendeine "mißliebige" Meinung abgetan werden, sondern müsse bekämpft werden.
Die Veranstaltungsreihe wurde nach Redaktionsschluß mit Konzerten, Vorträgen, u.a. mit dem Autor Markus Kienle über das KZ Heuberg und Prof. Reinhard Kühnl zum Thema "Der Faschismus, Ursachen, Ziele, Folgen, Widerstand" forgesetzt.

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