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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 1 / Januar 2003



Zum antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes:

Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda

von Reinhard Hildebrandt

"Das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) schützt zwar auch und gerade die 'politisch missliebige Meinung'. Bei dem Gedankengut von Neonazis geht es aber nicht um irgend eine 'politisch missliebige Meinung', sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt hat. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit als Kernpunkte neonazistischer Ideologie sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar sind. Der Ausschluß gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willenbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Wertordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der es rechtfertigt, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, inhaltlich zu begrenzen. Das historische Gedächtnis der Verfassung wird mit anderen Worten übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut als politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierendes Freiheitsrecht eingestuft." (Michael Bertrams, Präsident des Verfassungsgerichts und Oberverwaltungsgerichts für Nordrhein-Westfalen).

Faschismus ist ein Verbrechen
Dies ist, in der nüchternen Sprache des Juristen, der klare Sachverhalt, den die VVN-BdA höchst erfolgreich mit der Parole "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" zusammengefaßt hat.
Von diesem Demokratieverständnis ausgehend, hatten wir die Wiederzulassung des "Heß-Marsches" am 18. August 2001 in Wunsiedel kritisiert. (Siehe Antifa-Nachrichten Nr. 4 vom Oktober 2001). Auch andere kritisierten diese richterliche Entscheidung. "Es bleibt aber weiterhin schwer erträglich, daß die Polizei-Experten, die die tatsächliche Gefahr durch Demonstrationen Rechtsextremer auf Grund ihrer Erfahrungen sachkundig einschätzen, durch höhere gerichtliche Instanzen regelmäßig zu Gunsten der Neo-Nazis düpiert werden. Ein besonders negatives Beispiel der letzten Zeit war die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Bayern, der ein quasi seit zehn Jahren bestehendes Verbot von Versammlungen aufgehoben hatte, die an den Stellvertreter Hitlers, Rudolf Heß, erinnern sollen. Damit hat das Gericht einen stillgelegten Nazi-Wallfahrtsort wiederbelebt und dem Rechtsstaat Schaden zugefügt." (Konrad Freiberg, seit November 2000 Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, ND 14.12.2001).

Desinformation durch den Verfassungsschutz
Für den Verfassungsschutz, der gerade durch seine skandalöse Zusammenarbeit mit führenden Funktionären der NPD Aufsehen erregt hat, ist eine Kritik an höchstrichterlichen Entscheidungen zugunsten von Neonazis nicht zulässig, ja schlimmer noch, die VVN-BdA zeige mit dieser Kritik ein Demokratieverständnis, das "nicht mit dem unseres demokratischen Rechtsstaates vereinbar" sei - so der ungeheuerliche Vorwurf, nachzulesen im Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2001. Nun kennen wir ja schon seit Jahren die Diffamierungen und Falschinformationen der Verfassungsschutzbehörden. Desinformation ist bekanntlich eine Aufgabe der Geheimdienste. Aber mit diesem Pamphlet ist doch eine neue Stufe erreicht. Nicht nur, dass die Verfassungsschützer, die ihre Erkenntnisse aus allgemein zugänglichen Quellen beziehen, wie z.B. aus unseren Antifa Nachrichten, unfähig sind, einen Text zu lesen (so können sie nicht zwischen Bundesverfassungsgericht und dem Bayrischen Verwaltungsgerichtshof unterscheiden), ihre Ausführungen geben außerdem den Stand der Diskussion zum öffentlichen Auftreten von Neonazis unzutreffend wieder - eine gefährliche Ignoranz! Es kommt noch schlimmer, die "Verfassungsschützer" erklären die geltende Verfassung, die sie ja vorgeben zu schützen, in Teilen für ungültig! Der Artikel 139 GG (Fortgelten der Vorschriften über Entnazifizierung) sei mit dem Abschluss der so genannten "Entnazifizierung" obsolet geworden und würde seither keinerlei Rechtsfolgen nach sie ziehen. "Von einem wirksamen Fortbestand und normativen Charakter im Sinne einer Grundaussage über das Verhältnis des Grundgesetzes zum Nationalsozialismus beziehungsweise Faschismus kann nicht ausgegangen werden." (VS-Bericht 2001, S. 103). Diese Ausführungen der Verfassungsschützer können nicht unwidersprochen bleiben. Sie sind in zentralen rechtlichen Punkten unvollständig, stellenweise sind sie unseriös, sie setzen sich jedenfalls nicht ernsthaft mit den in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Gegenargumenten auseinander.

Es gibt kein Grundrecht auf Nazipropaganda
Im VS-Bericht wird der Eindruck erweckt, das Bundesverfassungericht hätte grundsätzlich entschieden, dass Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) auch uneingeschränkt für Rechtsextremisten gelten würde. Es müsse also Demonstrationsfreiheit auch für Neonazis geben und auch Nazipropaganda sei rechtlich zulässig. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Zwar behauptet der Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem, dass auch Neonazis grundsätzlich das Recht zustehe, öffentlich zu demonstrieren, dies folge aus den vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Grundsätzen. Er verschweigt, dass es sich bei diesen Grundsätzen nicht um allgemein verbindliche Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts handelt, sondern lediglich um die Rechtsprechung, der - mit Hoffmann-Riem und zwei weiteren Richtern - besetzten 1. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts, also um Eilentscheidungen in mehreren Einzelfällen, wobei Versammlungsverbote der Neonazis aufgehoben wurden.
"Diese Rechtsprechung entfaltet gegenüber Behörden und Gerichten - im Unterschied zu Entscheidungen des achtköpfigen Senats - über den Einzelfall hinaus keine Bindungswirkung" erläuterte der Verfassungsrichter Bertrams (Frankfurter Rundschau vom 16.7.2002) und kritisierte diese Entscheidungen. Dem Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem wirft er politische "Ignoranz und Bagatellisierung" der Neonazis als "mißliebige Minderheit" vor. Das Neonazi-Problem werde reduziert auf den Umgang mit politisch missliebigen Minderheiten. Bei den Anschauungen von Neonazis handelt es sich aber nicht lediglich um politisch missliebige Meinungen, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz eine entscheidende Absage erteilt hat. Was die VVN-BdA schon immer gesagt hat, und aktuell die Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Genehmigung des Rudolf-Heß-Marsches kritisiert hat, hier werde verfassungswidrige faschistische Propaganda zur "missliebigen Meinung" verniedlicht.
Die Kritik der VVN-BdA stimmt also mit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen überein. Ist nun das Demokratieverständnis dieser Verfassungsrichter auch "nicht mit den Demokratieverständnis unseres demokratischen Rechtsstaates vereinbar"? Es muss Schluss sein mit derartigen Unterstellungen und Diffamierungen!

Der Verfassungsschutz auf Abwegen
In der ideologischen Bekämpfungsstrategie der Ämter für Verfassungsschutz ist der Antifaschismus Hauptfeind, ein Aktionsfeld von Linksextremisten. Die VVN-BdA wird in den VS-Berichten in die Schublade "linksextremistisch" eingeordnet. Linksextremistische Aktivitäten der VVN-BdA sind "Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und Rassismus" in Freiburg, Kundgebungen "Gegen Rechts" in Heidenheim, ein "antifaschistischer Stadtrundgang" in Heidelberg, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen über die Partei "Die Republikaner" in Ludwigsburg. (VS-Bericht Baden-Württemberg 2001). Im Weltbild der Verfassungsschützer wollen Linksextremisten die freiheitliche Demokratie beseitigen. Derartige Argumentationsmuster sind unseriös, sie disqualifizieren sich selbst.

Art. 139 ist Verfassungsnorm
Besonders stark grenzt sich das Grundgesetz (GG) von Faschismus und Militarismus in Art. 139 GG ab. Ist der Artikel 139 eine noch heute gültige übergeordnete Verfassungsnorm, oder ist er obsolet geworden? Es ist bekannt, daß Art. 139 im Abschnitt XI "Übergangs- und Schlussbestimmungen" steht. Ebenso bekannt ist, dass das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des GG ausdrücklich ändert oder ergänzt. (Art. 79 GG). Keine Verfassung der Welt wurde in wenigen Jahrzehnten in einem solchen Umfang verändert wie das Grundgesetz. Mehr als 50 Artikel wurden geändert bzw. mehrfach geändert. Beispielsweise der Art. 23 (Geltungsbereich des GG). Er wurde durch den Einigungsvertrag aufgehoben und 1992 ersetzt durch einen neuen Art. 23 (Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union.) Einige der Übergangsbestimmungen wurden tatsächlich aufgehoben, nicht aber der Artikel 139, er gilt unverändert fort, ebenso wie der nachfolgende Artikel 140, der das Verhältnis von Kirche und Staat regelt und Teile der Weimarer Verfassung übernimmt. Zwar ist es zutreffend, dass Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Art. 139 eher auf einen eng begrenzten Anwendungsbereich hinweisen. Dies hat Dr. Clasen, Freiburg, in einem Leserbrief (Antifa Nachrichten 3/2002 erläutert). In einem engen Sinne ausgelegt, handelt es sich bei dem Artikel 139 lediglich um eine Übergangsvorschrift, die mit dem Abschluß der Entnazifizierung gegenstandslos und obsolet (abgenutzt, veraltet) geworden ist. Diese enge Auslegung durch einen großen Teil der bundesrepublikanischen Wissenschaft und der herrschenden Lehre ist aber keinesfalls zwingend. Darauf haben jüngst die Staatsrechtler Battis und Grigoleit, Berlin hingewiesen: "Dabei ist zu bedenken, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, aus der Gegenstandslosigkeit die naheliegende Konsequenz zu ziehen und die Vorschrift aufzuheben. Solange der Gesetzgeber nicht entsprechend tätig geworden ist, erscheint es höchst zweifelhaft, von mehreren denkbaren Auslegungsvarianten gerade diejenige zu wählen, die der Norm keinerlei Bedeutung beimisst. Auch wenn mit Abschluss der Entnazifizierung der unmittelbare Anwendungsbereich des Art. 139 weggefallen ist, vermag eine systematische Interpretation sehr wohl, aus dem Fortbestehen der Norm rechtsrelevante Schlüsse zu ziehen. Ihre Existenz als "Sondervorschrift nach rechts" ist in den Kontext der streitbaren Demokratie einzuordnen. ... Soll das Wort von der Verfassung als dem "historischen Gedächtnis" der Nation einen Sinn haben, so aktualisiert sich dieser gerade in Bestimmungen wie der des Art. 139 GG. Aus ihr lässt sich verfassungsrechtlich ablesen, warum das Grundgesetz den pluralistischen Prozess der demokratischen Willensbildung weitergehend als in jeder anderen Demokratie westlichen Typs normativ umhegt und zügelt." (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Heft 2, 2001). Die entscheidende Schlussfolgerung ist: "Der Ausschluss der nazistischen Ideologie aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist demnach ein in der Rechtsordnung der Bundesrepublik nachweisbarer, durch das historisch bezogene, die grundgesetzliche Ordnung gegenüber anderen westlichen Demokratien profilierende Prinzip der streitbaren Demokratie legitimierter Verfassungsbelang, der geeignet ist, die Freiheit der Meinungsäußerung auch jenseits verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen nach Art. 21, II, 18 S. 2 GG inhaltlich zu begrenzen". (a.a.O. S. 125).
Diese Rechtsauffassung hat Helmut Ridder bereits 1979 vertreten: "Artikel 139 verweist konkret auf das dem ganzen Verfassungswerk als unentziehbare 'Geschäftsgrundlage' dienende Verdikt über den Nationalsozialismus als Programm wie als politische Wirklichkeit" (Ridder: Zur Ideologie der "streitbaren Demokratie, Hamburg, 1979 S. 34).
Artikel 139 ist nicht aufgehoben, sondern bleibt Ausdruck der antifaschistischen Ausrichtung des Grundgesetzes.

Bundesregierung hat Art. 139 bestätigt
Bei Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, heißt es sogar, "dass Art. 139 auch als Grundaussage über die Haltung des GG gegenüber nationalsozialistischen und verwandten Staatsauffassungen anzusehen ist. Es sei auch an die Erklärung der Bundesrepublik gegenüber der UNO erinnert: "Das ausdrückliche Verbot von nazistischen Organisationen und gleichfalls die Vorbeugung gegenüber nazistischen Tendenzen folgen aus dem Grundgesetz mit der Wirkung, dass die von den Alliierten und deutschen Stellen erlassene Gesetzgebung zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus weiterhin in Kraft ist." (United Nations, General Assembly, A/8056, nach dem englischen Original übersetzt). Das war am 31.7.1970.
Im Prinzip wurde diese Aussage von der Bundesregierung am 29.10.1999 bestätigt: "Die SS - auch die Waffen-SS - sind verboten und aufgelöst. Dies ergibt sich aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 ... Das Verbreiten von Propagandamitteln, die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Partei oder Organisation fortzusetzen, ist gemäß § 86, Abs. 1 Nr. 4 StGB strafbar. ... Die gesetzlichen Vorschriften zur Bekämpfung von nationalsozialistischen Parolen sind ausreichend." (Bundestagsdrucksache 14/1991).

Die Norm im Widerspruch zur Wirklichkeit
Die Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland mit der durch staatliche Eingriffe weitgehend ungestörten Existenz eines neofaschistischen Organisationsgeflechts in der Gegenwart steht allerdings im Widerspruch zu der übergeordneten Norm des Artikels 139. Die Worte von Wolfgang Abendroth aus dem Jahr 1975 sind unverändert aktuell: "Wir dürfen in unserer Argumentation... niemals auf Artikel 139 und seine grundlegende Bedeutung auf die klare Ablehnung des Nationalsozialismus und Militarismus, wie es dort heißt, also aller faschistischer Bestrebungen, durch das Grundgesetz verzichten. Wir müssen diesen Artikel 139 als übergeordnete Norm immer wieder betonen und allerdings dann auch diese Norm überzeugend mit der Wirklichkeit in Widerspruch setzen, weil sie mit der Wirklichkeit des täglichen Lebens in der BRD im Widerspruch steht. ... Wer das in aller Klarheit tut, der... schützt das, was das Bundesverfassungsgericht die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" nennt, denn Artikel 1, 20, 28, 18 und 79 des GG konnten nur auf der Basis der Vernichtung des Dritten Reiches, wie sie Artikel 139 deutlich macht, entstehen."
(Abendroth/Düx/Stuby u.a. "Antifaschistische Politik heute. Verteidigung der demokratischen Grundrechte - Erfüllung antifaschistischer Verfassungsaufträge. Texte zur Demokratisierung 15, Frankfurt/Main 1975, S. 39 - 51).

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