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antifNACHRICHTEN Titelseite
Nummer 3 / August 2002



Regierungsbilanz aus antifaschistischer Sicht:

Leider kam es anders

von Eckart Spoo

Aus antifaschistischer Sicht kann die Bilanz von Rot-Grün nicht überzeugen - meint Eckart Spoo, Herausgeber und verantwortlicher Redakteur der Berliner Zweiwochenschrift "Ossietzky"

1998 hätte man annehmen können, daß für AntifaschistInnen bessere Zeiten begännen. Die Partei der Kiesingers, Filbingers und Dreggers war abgewählt, Sozialdemokraten und Grüne zogen in die Regierung ein. Politikerinnen und Politiker aus beiden Parteien hatten den Überlebenden des Widerstands und der Verfolgung bei manchen Gelegenheiten Respekt erwiesen, im Kampf gegen den Neonazismus hatte man dann und wann gemeinsame Erfahrungen gemacht. Nach einem Kanzler Kohl, der dem Kniefall Willy Brandts in Warschau die widerwärtige Zeremonie der Selbstgefälligkeit in Bitburg hatte folgen lassen und sich mit dem scheinheiligen Hinweis auf die "Gnade der späten Geburt" konsequent der historischen Verantwortung entzogen hatte, erschien eine neue, eine andere Politik überfällig, nämlich der Bruch mit revanchistischen, nationalistischen, rassistischen und kriegerischen Traditionen, d.h. die Neuorientierung der Politik auf Frieden, Demokratie und Menschenrecht.

Krieg und Auschwitz-Mißbrauch
Leider kam es ganz anders. Die Regierung war noch nicht offiziell im Amt, da traf sie schon eine unentschuldbare Entscheidung, die ihr ganzes weiteres Handeln prägte: Sie verabredete mit der US-Regierung den Krieg gegen Jugoslawien - und sie bereitete diesen ersten deutschen Angriffskrieg unter schäbigem Mißbrauch antifaschisischer Argumente und Emotionen vor. Joseph Fischer, der einst in einer glänzenden Bundestagsrede dem damaligen CDU/ CSU-Scharfmacher Heiner Geißler nach dessen unsäglicher Äußerung über den Pazifismus, der "Auschwitz erst möglich gemacht" habe, scharf widersprochen hatte, machte sich nun genau diese Position zu eigen. Der demokratisch gewählte jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic wurde - zum "neuen Hitler" erklärt und Verteidigungs- und nein, Angriffsminister Scharping schändete Auschwitz, indem er dort mit 120 Bundeswehrsoldaten aufmarschierte und die Opfer des Holocaust, darunter viele Jugoslawen, zur Rechtfertigung des dritten deutschen Angriffskrieges gegen dieses Land innerhalb eines Jahrhunderts in Anspruch nahm.
Das 1941 von deutschen Bomben großenteils zerstörte Belgrad und viele andere jugoslawische Städte wurden Ziele von NATO-Bomben und -Raketen. Schwer beschädigt wurde u.a. auch die Gedenkstätte in Kragujavac für die Opfer des größten Massakers der Nazis auf dem Balkan. Mit Lügenpropaganda über serbische Massaker und Massenvertreibung des albanischen Bevölkerungsteils in Kosovo wurde die blutige Massenvertreibung von Serben Roma und Juden aus dem Kosovo verschleiert; über die wahren Kriegsgründe, Kriegshandlungen, Kriegsergebnisse und Kriegsfolgen wird die deutsche Öffentlichkeit bis heute schamlos irrgeführt.
Mit diesem Aggressionskrieg zerbrach die europäische Friedensordnung die 1975 in Helsinki mit der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) - anstelle des im Kalten Krieg nicht zustande gekommenen Friedensvertrags mit Deutschland geschaffen worden war. Nein, sie zerbrach nicht, sie wurde von Deutschland das durch sie gezähmt werden sollte, zerbrochen.

Enttabuisierung des Militärischen
Und mit dem Krieg hebelten Deutschland und seine Verbündeten nicht nur die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus, sondern auch die UNO, die große Errungenschaft des Jahres 1945.
Unmittelbar nach dem Ende der NATO-Bombardements flog Bundeskanzler Schröder nach Kosovo und verlautbarte, durch diesen Einsatz der Bundeswehr verblaßten die einstigen deutschen Verbrechen auf dem Balkan. Weitere deutsche Militäreinsätze außerhalb des verfassungsrechtlichen Verteidigungauftrags folgten, neuerdings auch ein, anfänglich verleugneter, Einsatz von Bodentruppen in Afghanistan - und Schröder rühmt sich der "Enttabuisierung des Militärischen". Bezeichnend ist, daß er Besuchern im Kanzleramt auf seinem Schreibtisch ein Bild seines Vaters in Wehrmachtsuniform mit Hakenkreuz präsentiert. Sein zeitweiliger Staatsminister für Kultur, Naumann, hatte zwar verheißen, die nach Nazi-Generälen benannten Bundeswehrkasernen würden umbenannt, aber sie behielten ihre Namen. Der Militäretat wächst, die Rüstungsexporte wachsen. Und führende Politiker und Publizisten würdigen - unter Mitwirkung nationalistischer Intellektueller wie des von Schröder geschätzten Schriftstellers Martin Walser - die Entwicklung Deutschlands als "Normalisierung", als "Rückkehr zur Normalität".

Schlußstrich-Mentalität
In alledem äußert sich eine gefährlich Schlußstrich-Mentalität - die gerade deswegen gefährlich ist, weil sie sich nicht mit einer normalen Rolle Deutschlands begnügt, sondern überall nach einer Führungsrolle strebt. Die Erinnerung an die Nazi-Vergangenheit soll insoweit überwunden werden, als sie bei der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Expansion stört. Diese Schlußstrich-Mentalität hat auch die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter bestimmt. Deutsche Konzerne sollten von allen Entschädigungsansprüchen befreit werden, die ihnen vor allem in den USA hinderlich waren. Von den Opfern der Zwangsarbeit war dabei kaum die Rede. Etliche Gruppen von Nazi-Opfern erhalten weiterhin keinerlei Entschädigung.
Mehr und mehr Ermutigung durch Koalitionspolitiker finden dagegen die Vertriebenenfunktionäre, deren Forderungen sich derzeit vor allem gegen Tschechien richten. Das Nachbarland wird unter Druck gesetzt, die sogenannten Benesch-Drekrete rückgängig zu machen. Und nun laufen auch Planungen für ein "Vertreibungszentrum" - nachdem für das Holocaust-Mahnmal nicht einmal die Fundamente stehen: und seit Jahen ruhen die Arbeiten an der "Topographie des Terrors". Sogenanntes Gedenken beschränkt sich meist auf gedankenloses Kranzniederlegen, Aufklärung - die sich in Deutschland vor allem mit der Täterschaft befassen müßte: Wie wurden die Täter zu Täter? - findet kaum statt.

"Rudolf Scharping machte einen wirklich guten Job. ... Nicht nur Minister Scharping, auch Kanzler Schröder und Minister Fischer waren ein großartiges Beispiel für politische Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterher rennen, sondern sie zu formen verstehen. ... Wenn wir die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren."

Ex-NATO-Sprecher Jamie Shea

Mehr Polizei statt mehr Demokratie
Weil das Ansehen des wirtschaftspolitisch auf Export ausgerichteten Landes durch Nachrichten über Gewalttaten von rechts in Gefahr geriet, riefen PolitikerInnen von Koalitions- und Oppositionsparteien mal schnell zu einem "Aufstand der Anständigen" auf, der sich im wesentlichen in einer Kundgebung in Berlin erschöpfte und folgenlos blieb. Aus eben solcher Sorge um das Ansehen der Stadt X oder des Bundeslandes Y werden die meisten Nachrichten über Neonazi-Gewalt unterdrückt. Die Verfälschung der Kriminalstatistik ist so skandalös wie die permanente Kriminaliserung von Antifaschisten, die durch ihr Engagement versuchen, den Neonazismus überhaupt zum Thema zu machen - und so die Bemühungen um Vortäuschung eines nazifreien, demokratisch musterhaften Deutschland stören.
"Mehr Demokratie wagen" - das ist vorbei. Schon damals folgten bald die Berufsverbote. Unter Schröder und seinem Innenminister Schily haben Demokratie und Menschrechte schweren Schaden genommen. Man lese den neuen "Grundrechte-Report" (rororo), worin der frühere Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch u.a. aufzählt, welche zusätzlichen Ermächtigungen Polizei und Geheimdienste (nicht erst seit dem 11. September 2001) erhalten haben, welches Ausmaß die Bespitzelung der Bürger angenommen hat, wie rapide vor allem die Rechte von Ausländern erodiert sind. Jetzt drohen neue Einschränkungen der Rechte von Arbeitslosen, nachdem Schröders Ankündigungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit unerfüllt geblieben sind -, und hinter allen Gesundheitsreformplänen wird die Absicht sichtbar, auch die Rechte der Kranken zu reduzieren.
Rot-Grün hat Edmund Stoiber viel Vorarbeit geleistet. Die Notwendigkeit antifaschistischen Engagements ist nicht kleiner geworden - im Gegenteil.

Den Beitrag haben wir geringfügig gekürzt der Zeitschrift "Der Rechte Rand" Nr. 77 Juli 02 entnommen. Zwischentitel von der AN-Redaktion.

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